Wir nennen das Sichtbarkeit
Muslime und Musliminnen haben in Europa begonnen, Teil des alltäglichen Lebens zu sein. Deren Andersheit ist nun zentrales Thema geworden. Ein Gespräch mit der Soziologin Nilüfer Göle über einen schwierigen Prozess. Interview: Ibrahim Yavuz.
Sie haben für Ihre jüngste Publikation in 21 europäischen Städten in vielen Gesprächen die Rolle des Islam erforscht. Vorab gefragt: Was bedeutet Islam für Sie selbst?
Es waren kuriose Verhältnisse, als ich begann, zum Thema Islam zu forschen. In der Türkei war das große Thema nach dem Putsch 1980 das Kopftuchverbot an den Universitäten. Ich kam aus einem Umfeld, das Emanzipation und Säkularisierung als untrennbar verbunden ansah und Bildung als Loslösung von der Religion verstand. Wenn jemand auf die Universität ging, galt er/sie zugleich als Teil einer säkularen Welt. Gleichzeitig wollten aber kopftuchtragende Frauen nicht so aussehen wie wir und sie kleideten sich anders. Deshalb war die Frage für mich zentral: Auf welche Weise sind wir in der Lage, unser Leben gemeinsam zu gestalten, die Säkularen und die Konservativen? Eine Voraussetzung für meine Forschung ist es also, mich in beiden Welten zu bewegen. Für mich ist das Wichtigste, zu verstehen. Erst durch Verständnis entsteht Vertrautheit und damit die Möglichkeit, die verschiedenen Lebenswelten voneinander in Kenntnis zu setzen. Ich sehe das ganze Leben als eine Art Vermittlung, immer mit einem zweiköpfigen Blick. Oder, wie es der Soziologe Zygmunt Bauman ausdrückt: Es ist wichtig, ein Dolmetscher zu sein – auch im Sinn eines gesellschaftlichen Pluralismus.
Kürzlich hat die Regierung in Österreich ein Kopftuchverbot für einige Bereiche des öffentlichen Lebens beschlossen. Wohin führen uns solche Verbote? Wird die Öffnung Europas für Alle nicht möglich sein?
Das Kopftuch ist ein zentrales Symbol für die Sichtbarkeit des Islam geworden. Der Wunsch von Menschen, sich in allen öffentlichen Lebensbereichen zu bewegen, führt auch zu Problemen. Muslime und Musliminnen haben in Europa begonnen, Teil des alltäglichen Lebens zu sein. Deren Andersheit ist nun ein wichtiges Thema geworden. Zu Beginn sah es so aus, als wäre das ein spezifisch französisches Phänomen, da das Laizitätsprinzip Frankreichs einzigartig in der Welt ist. Doch, wie auch mein Buchzeigt, beziehen sich derzeit alle europäischen Staaten auf säkulare Werte. Es ist schwer zu sagen, ob es hier einen Fortschritt geben wird. Die Diskussion wird primitiver und, wie wir sehen, hat sie hohes Polarisierungspotenzial. Mir kommt vor, dass die Diskussion statt zu einem besseren Verständnis immer wieder an ihren Anfang zurückkehrt. Statt einer Normalisierung des Kopftuchs erleben wir ein Verbot dieser Andersheit. Österreich ist das jüngste Beispiel. Mit dem Verbot erhofft sich die Politik, dass mit der Zeit dieses Thema überwunden wird. Studenten, die in den 1990er Jahren aufgrund des Kopftuchverbots in der Türkei nach Österreich kamen, werden nun mit demselben Verbot hierzulande konfrontiert.
Würden Sie sagen, Muslime sind bereits europäische Realität? Erleben Muslime bei der Teilnahme am Kunst -und Kulturleben ein mangelndes Selbstbewusstsein oder können die europäischen Eliten diesen Umstand nicht akzeptieren?
Die Muslime, von denen wir hier sprechen, sind Teil europäischer Gesellschaften. Sie haben ihre religiösen Praktiken in migrantischen Verhältnissen gelernt oder diese hier neu erfunden und interpretiert. Manche intellektualisieren ihren Glauben, andere politisieren ihn mehr. Dass die Muslime aus verschiedenen Nationen und Glaubensrichtungen kommen, führt jedenfalls zu einer pluralistischen, kosmopolitischen Umgebung, in der sich für alle Beteiligten neue Perspektiven eröffnen. Zweifelsohne gibt es aber eine ausgrenzende Haltung Europas, vor allem bei den Eliten. Aus deren Sicht besteht folgendes Bild: Eine neue Religion kommt auf, doch während die Muslime Teil der europäischen Gesellschaften werden, legen sie ihre kulturelle und religiöse Andersheit nicht ab, sie bringen diese sogar ans Rampenlicht. Wir nennen das Sichtbarkeit – sie zeigt, dass das Selbstbewusstsein der Muslime gestiegen ist. Die erste Generation von Migranten war weder gewillt, die eigene Sprache in der Öffentlichkeit zu sprechen, noch ihren Glauben zu zeigen. Doch je mehr ‘Erfolge’ die zweite und dritte Generation in diesen Gesellschaften hat, indem sie ihren Bildungsstatus erhöht, sich in politischen Parteien oder NGOs engagiert, Berufe erlernt, also ein aktiver Teil wird, desto mehr Platz fordert sie auch in der Öffentlichkeit.
Ist es das, was Sie als den Prozess des Bürgerwerdens beschreiben?
Ja, genau. Das bedeutet einerseits Teilhabe und andererseits, Forderungen zu stellen: wenn es um den Bau von Moscheen geht, um Halal-Schächtungsmöglichkeiten, die Errichtung von Friedhöfen. Darin zeigt sich der Prozess des Bürgerwerdens: Dass dieser Wandel stattfindet, ist aus Sicht der Migranten ein Erfolg, denn diese Praktiken und Forderungen zeigen ihre Integration.
Konflikte werden oft kulturell erklärt, scheinen aber eher soziale Ursachen zu haben. Welche Rolle spielt Bildung in diesem Fall?
Allem voran gibt Bildung dem Menschen Sicherheit. Die Landessprache zu beherrschen ist auch Voraussetzung für einen Beruf. Die Gleichstellung in der Gesellschaft kann man daran festmachen. Auf der anderen Seite schützt das nicht davor, Opfer von Diskriminierung zu werden. Umfragen bestätigen, dass, wenn Sie Ali oder Mehmet heißen, Ihnen derselbe Bildungshinter-grund nicht unbedingt nützt. Im sozialen Leben gibt es heute beständig Kämpfe, Gewerkschaften, Menschenrechtsorganisationen und die Zivilgesellschaft spielen eine wichtige Rolle gegen Ungleichheit. Meiner Meinung nach sollten Muslime allerdings nicht nur um die eigenen Rechte und Themen kämpfen, sondern um Themen, die die gesamte Bevölkerung betreffen. Erst so werden sie zu aktiven Bürgern der europäischen Gesellschaften.
In einem Interview sagen Sie, dass die heutigen Muslime in Europa den Islam nicht wie ihre Großeltern oder Eltern leben. Wie drückt sich das aus? Wie verändern sich Europa und der Islam?
Auf zweifache Weise. Erstens erleben wir einen Prozess, in dem sich Muslime ‘europäisieren’. Und zweitens gibt es eine Annäherung Europas an den Islam, im Moment wird diese aber von beiden Seiten negativ wahrgenommen. Muslime fühlen sich ungerecht behandelt und stigmatisiert, während Europäer ein Problem mit dem Frauenbild des Islam zu haben scheinen. Und auch die Terrorgefahr beunruhigt die Menschen sehr. Daraus resultiert eine Politik der Angst, die Aufwind für neo-populistische, islamfeindliche und rechte Bewegungen bringt. Eigentlich müssten die Andersheiten in einem demokratischen Prozess ausverhandelt werden. Tatsächlich werden immer öfter undemokratische Wege beschritten, das ist sehr gefährlich. Das führt auch dazu, dass Muslime in einer Art Teufelskreis sich ständig gedrängt fühlen, auf Ungerechtigkeiten hinzuweisen. Sie sind gefangen zwischen Islamophobie und Terrorvorwürfen. Die Pluralität leidet darunter, Austausch findet nicht mehr unter demokratischen Vorzeichen statt. Meine These im Buch ist, dass die Öffentlichkeit für das Austragen der Andersheiten enorm wichtig ist, um diesen Fallen zu entgehen. Der öffentliche Raum ist für die Demokratie ein unumgänglicher Ort, an dem die BürgerInnen einander begegnen und kennenlernen, wo sie diskutieren und kulturelle Unterschiede Wechselbeziehungen eingehen können. So kann die Möglichkeit gewährleistet werden, einen Raum mit neuen Vereinbarungen und Institutionen entstehen zu lassen.
Teil der ‘Islam-Diskussion’ ist auch die Frage, ob Demokratie und Scharia vereinbar sind. Ist das nicht ein politisches Scheingefecht?
Die Agenda in Europa steht derzeit total auf Radikalisierung. Natürlich ist der Terrorismus ein wichtiges Thema, von dem Muslime sich noch entschiedener abgrenzen müssen. ‘Gewöhnliche Muslime’ betonen auch oft, dass dies nichts mit deren Islam zu tun hat. Das bedeutet aber auch, dass Standpunkte ausgetauscht werden müssen. Dass Scharia und Demokratie konträr zueinander sind, halte ich für eine politische und ideologische Bewertung. Muslime werden europäische Bürger und diese Tatsache müsste sich auch in der Politik wiederspiegeln. Gegenwärtig ist vor allem die Stimme derjenigen, die diese Andersheit nicht akzeptieren wollen, sehr laut. Wichtig wäre, zwischen dem Alltag der Menschen und dem Geschäft der Politik und der Medien zu unterscheiden. Sonst führen wir diese ideologisierte Diskussion nur weiter.
Warum kommen Kopftuchtragende selbst kaum zu Wort, wenn es um das ‘religiöse Symbol’ Kopftuch geht?
Das ist das Anliegen meines Buches, die Personen und deren Geschichten hervorzuheben. Der Diskurs dehumanisiert diese Menschen.
Sie möchten den Personen ein Gesicht geben.
Ja, in der Tat. Ich möchte den Menschen entdecken. Heute sehen wir aber auch, dass kopftuchtragende Frauen die Bedeutung dieses Symbols verändern. Die Sichtbarkeit des Kopftuches auf Universitäten und anderorts belegen, dass es keine Angewohnheit ist, die aus der Vergangenheit hängengeblieben ist, etwa im Sinn traditioneller und bescheidener Frauen. Das Kopftuch stellt die Frauen heute vielmehr in das Scheinwerferlicht. Damit beginnt das Kopftuch unterschiedliche Bedeutungen in Europa zu gewinnen. Ähnlich verhält sich das mit der Halal-Schächtung. Darunter verstand man bisher die Schlachtung eines Tieres. Heute kann es die Bedeutung von der Halal-Schächtung bis zum Halal-Lifestyle haben. Auch die Architektur der Moscheen ist so ein Beispiel. Beim Moscheebau geht es nicht mehr allein um eine Genehmigung. Da fängt der Prozess erst an, wie z.B. mit der Einbeziehung der Nachbarschaft. Ich erachte es als sehr wichtig, dass die neue Moschee in Köln einem deutschen Architekten anvertraut wurde. Der kulturelle Austausch ist ausschlaggebend für die entstehende Vertrautheit. Wenn ich vom Islam als einem öffentlichen Thema spreche, dann deshalb, weil es ein gesamtgesellschaftliches Thema ist. Das gilt auch für den Moscheebau, bei dem die Bewohner der Stadt involviert werden sollten. Muslime müssen weiterhin erkennen, dass die Interaktion mit allen anderen Menschen unabdingbar ist. Deshalb sind Initiativen wie der ‘Tag der offenen Moscheen’ sehr wichtig.
ZUR PERSON
Nilüfer Göle, geboren 1953 in Ankara, ist seit 2001 Professorin für Soziologie an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris. Sie war u.a. Gastprofessorin an der University of Michigan, am Massachusetts Institute of Technology (MIT) und an der New School for Social Research in New York City und war Fellow am Wissenschaftskolleg Berlin. Für ihr aktuelles Buch „Europäischer Islam“ betrieb Göle fünf Jahre lang Feldforschung in 21 europäischen Städten zu den Themen Öffentlichkeit, Medien und Säkularismus. Göle führt dabei vor Augen, welche Konflikte und Wandlungen die in Europa lebenden Muslime in Europa im Alltag erfahren. Zuvor erschien ihr Buch „Anverwandlungen. Der Islam in Europa zwischen Kopftuchverbot und Extremismus“ (2008).
Ibrahim Yavuz ist freier Journalist und staatlich beeidigter Übersetzer. Er forscht zum Thema Diplomatie- und Kulturgeschichte an der Universität Wien.
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