„Wir können nicht alle nehmen“
CLARTEXT. PolitikerInnen und JournalistInnen setzen Übertreibung immer wieder als Stilmittel ein. Zum Beispiel in der Asyldebatte. Da ist Vorsicht angesagt. Clara Akinyosoye sagt es nicht durch die Blume. Eine Kolumne über Diversität und Migration, Illustration: Petja Dimitrova
Ich habe eine gute Bekannte, deren Talent es ist, Geschichten zu erzählen. Sie berichtet bunt und ausschweifend, setzt gekonnt dramatische Pausen ein und sie verwendet gerne Superlative. Ihre Geschichten sind deshalb so legendär, weil sie wie viele gute RhetorikerInnen Übertreibung als Stilmittel einsetzt. Wenn sie also davon spricht, dass im Büro alle Augen auf sie gerichtet waren, dann waren da sicher auch einige, die woanders hinblickten. Und wenn sie in einer tiefschwarzen, der wohl dunkelsten Gasse, die sie jemals gesehen hat, unterwegs war, dann war dort mit Sicherheit irgendwo doch eine Laterne. Aber das macht die Frau nicht zur Lügnerin, sondern zur Entertainerin.
Wenn sich allerdings PolitikerInnen und Politik-JournalistInnen der Übertreibung als Stilmittel bedienen, dann ist Vorsicht geboten. Denn die Botschaften dieser MeinungsbildnerInnen dienen in erster Linie nicht der Unterhaltung. Sie prägen den politischen, medialen und gesellschaftlichen Diskurs. Wie oft haben Sie denn den Satz gehört oder gelesen „Wir können nicht alle nehmen“? Diese Aussagen wurden so oft reproduziert und werden wie scheinbar harmlose Floskeln in Debatten über Asyl- und Migrationspolitik beliebig eingesetzt. Nur rhetorische Übertreibungen, die keinem wehtun, könnte man meinen, nichtssagende Floskeln, über die man sich nicht weiter echauffieren muss. Aber so ist es nicht. Denn mit solchen Aussagen wird dazu beigetragen, dass ein verfälschtes Bild über die tatsächliche Verteilung von Flüchtlingen gezeichnet wird. Wer der eigenen politischen Forderung oder dem politischen Kommentar Würze verleihen will, indem man sich einer Floskel wie „Wir können nicht alle Flüchtlinge aufnehmen“ bedient, suggeriert damit, dass alle zu „uns“ nach Österreich bzw. Europa wollen, dass irgendwo doch die Forderung im Raum stehen muss, „wir“ sollten alle nehmen.
Ignoriert wird dabei, dass der Großteil der Flüchtlinge eben nicht im reichen Europa, sondern in wirtschaftlich schwächeren Ländern wie dem Libanon, in Jordanien, Pakistan, der Türkei und vielen afrikanischen Staaten wie Uganda und Äthiopien untergekommen ist. Nach wie vor befinden sich die größten Flüchtlingslager der Welt in Jordanien und auf dem afrikanischen Kontinent, nämlich in Kenia. Doch das wird in unseren sehr aufgeregten, eurozentristischen Diskursen über Asyl und Migration selten oder nur am Rande zur Sprache gebracht. Wie es scheint, wird auch die Forderung, die EU solle Flüchtlingslager in Afrika errichten und betreiben, bald mehrheitsfähig sein. Das heißt, die Flüchtlingsproblematik wird auf Afrika abgewälzt. Aber ganz ehrlich: Afrika kann doch nicht alle nehmen.
Clara Akinyosoye ist freie Journalistin und Ex-Chefredakteurin von M-Media.
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