Es geht nicht um Wertekurse
Paul Scheibelhofer leitet sexualpädagogische Workshops mit geflüchteten jungen Männern. Ein Gespräch über Projektionen, überkommene Vorstellungen von Männlichkeit, und die Angst, dass etwas „passieren“ könnte. Interview: Eva Maria Bachinger, Fotos: Karin Wasner
Der Blick auf junge geflüchtete Männer ist vielfach wohl so: Da kommen alleinstehende Männer, sie haben keine Frau, sie müssen sich eine mit Gewalt holen, weil sie unter Druck stehen und Frauen nicht respektieren.
Dieser Blick ist problematisch, weil er alte Mythen über Männlichkeit und Sexualität aufwärmt, von denen man annehmen hätte können, dass sie passé sind. Es wird da ein Bild von männlicher Sexualität als unbändige Kraft gezeichnet, die, wie in einem Druckkochtopf, stets Gefahr läuft, zu explodieren und zu Gewalt gegen Frauen führe. Erklärt wird das dann mit Testosteron, Kultur, Religion etc. Mit dieser falschen Perspektive kommen wir nicht zu richtigen Erklärungen. Auch nicht über tatsächliche Fälle von Gewalt oder sexuellen Übergriffen. Dieser Blick führt vor allem zum Ruf nach repressiven Maßnahmen: Dann sollen die Jugendlichen mehr kontrolliert, außer Landes geschafft werden oder erst gar nicht reingelassen werden.
Was wäre ein anderer Zugang?
Ich würde zustimmen, dass die Situation von Geflüchteten schwierig ist. Enger Wohnraum, oft keine Beschäftigung oder ausreichend Bildungsangebote, viele kommen aus Regionen, wo sie selbst Gewalt erfahren haben und auch die Zukunftsperspektive von vielen Jugendlichen ist erst mal unsicher. Wenn das alles zusammenkommt, ist es klar, dass das für Menschen belastend ist. Wie eine Person damit umgeht, ist aber eine andere Frage und führt bestimmt nicht automatisch zu Aggression oder Gewalt, wie es in öffentlichen Debatten oft argumentiert wird. Es braucht vor allem ein Bemühen, den negativen Faktoren, die zu Belastungen führen, entgegenzuwirken. Wie kann etwa die Unterbringungssituation so gestaltet werden, dass sich Jugendliche dort wohl fühlen? Welche sinnvollen Beschäftigungsmöglichkeiten gibt es, wie schaut der Alltag aus? Können sie eine Zukunftsperspektive entwickeln, gibt es Räume, wo sie sich mit sich selbst – eben auch mit Fragen von Geschlecht und Sexualität – und mit anderen auseinandersetzen können?
Wie ist tatsächlich der Blick der jungen Männer auf Frauen?
In sexualpädagogischen Workshops mit jungen geflüchteten Männern kam die Frage, wie denn „die Frauen“ hier seien, immer wieder mal auf. Und es haben sich da schon bestimmte Bilder von „dem Westen“ und von westlichen Frauen gezeigt, die wir dann diskutiert haben. Aber den einen – von allen geteilten – Blick gibt es nicht. Oft wird den jungen Männern ja unterstellt, sie würden meinen, dass Frauen weniger wert seien und man hier leicht Sex haben kann. Ich habe in Workshops aber Buben erlebt, die sich etwa in Diskussionen über Sexualität und Beziehung mit Vehemenz auf die Seite von Mädchen geschlagen haben. Die Bilder und Zugänge sind vielfältig. So meinte ein Jugendlicher in einem Workshop, er sei auf der Suche nach einer Beziehung, aber eine auf Dauer. Er hat dann gefragt, ob es hier tatsächlich so ist, dass Frauen eigentlich gar keine Beziehung wollen, sondern nur Sex. Das hat er in Gesprächen so gehört und hatte nun die Sorge, dass er kein Mädchen findet, das, wie er, auch eine romantische Beziehung will. Wie gesagt, die Bilder und die Wünsche der jungen Männer sind einfach sehr unterschiedlich. Und, dass es dann auch jene gibt, die meinen, dass der Mann in einer Beziehung den Ton angibt, gehört in der sexualpädagogischen Arbeit mit jungen Männern eher zum Regelfall als zur Ausnahme. Dem gilt es, mit einer Perspektive der Geschlechtergerechtigkeit zu begegnen. Eine Perspektive, die immer wieder auch von Jugendlichen in Diskussionen reklamiert wurde. Sexualpädagogische Workshops verstehe ich darum auch nicht als „Werteschulungen“, in denen es darum geht, einer Gruppe, die als homogen und problematisch gedacht wird, den korrekten oder gar den „österreichischen“ Umgang mit Sexualität beizubringen. Diese Workshops eröffnen einen Gesprächs- und Diskussionsraum, wo unterschiedliche Themen besprochen werden können. Dieser Raum wird nach meinen Erfahrungen von den jungen Männern gut und auf vielfältige Weise genutzt.
Wie kam es zu den Workshops mit Flüchtlingen? Gab es vermehrt Anfragen?
Bis letzten Sommer habe ich ein sexualpädagogisches Projekt in St. Pölten geleitet. Ab Herbst 2015 kamen vermehrt Anfragen aus Einrichtungen für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Fast alle Anfragen betrafen Workshops mit jungen Männern. Damals haben wir beschlossen, dass wir dieser Nachfrage entsprechen wollen und haben ein eigenes Budget bereitgestellt. Ich bin mittlerweile an der Universität Innsbruck am Institut für Erziehungswissenschaft tätig und befasse mich dort weiterhin mit den Themen Migration, Geschlecht und Sexualität. Ehrenamtlich habe ich Workshops in Flüchtlingseinrichtungen und auch Fortbildungen für MitarbeiterInnen angeboten. Derzeit befasse ich mich gemeinsam mit Kolleginnen mit Überlegungen, wie eine Auseinandersetzung mit Sexualpädagogik und der Frage sexueller Rechte im Fluchtkontext besser institutionalisiert werden kann. Erfreulicherweise gibt es für so eine Auseinandersetzung von Seiten vieler Fluchteinrichtungen heute ein großes Interesse.
Merkt man die bestimmten Bilder im Kopf bereits bei den konkreten Anfragen?
Unter den Anfragen von Fluchteinrichtungen gab es auch solche, wo problematische Bilder im Hintergrund mitschwangen. Etwa wenn vor dem Sommer unbedingt noch ein Workshop durchgeführt werden sollte, da die Jungen dann ja vermehrt mit Frauen in kurzen Röcken in Kontakt kämen... Bei all den Medienberichten und Debatten über dieses Thema ist es wohl auch verständlich, dass solche Bilder vorherrschen. Außerdem standen manche der erst kürzlich eröffneten Einrichtungen anscheinend auch unter Druck, dass nichts „passieren“ darf, da das sonst die Schließung der Einrichtung bedeuten hätte können. Also die BetreuerInnen stehen auch unter Druck und haben viele Fragen. Deshalb ist bei Fortbildungen für Teams auch wichtig über diese Bilder zu reflektieren, und zu fragen, woher ich meine Annahmen habe. Wenn sich Teams damit auseinandersetzen, werden ihnen auch Vorurteile bewusst. Und auch die Sexualpädagogik selbst ist meines Erachtens gefordert, sich von diesen Gefahrenbildern nicht einfangen zu lassen und im Fluchtkontext quasi zur „Sexpolizei“ zu mutieren, die potentiellen Gewalttätern erklärt, was sie hier dürfen und was nicht.
Angesichts der Übergriffe in der Silvesternacht in Köln: Hat man sich zu spät mit diesem Thema auseinandergesetzt?
Vorab: Ich finde nicht, dass die Übergriffe in Köln oder anderswo die Hauptmotivation sein sollten, wieso sich Fluchteinrichtungen mit dem Thema Sexualität auseinandersetzen, sondern weil sie es als Teil ihrer professionellen Tätigkeit sehen. Aufgrund der großen Flüchtlingsbewegungen im Herbst 2015 wurden viele Einrichtungen rasch aus dem Boden gestampft. Die erste und wichtigste Frage war, wie kriegen wir für die Flüchtlinge ein Dach über den Kopf. Da stand die Frage des Umgangs mit dem Thema Sexualität bei vielen nicht im Vordergrund und kam erst verzögert aufs Tapet. Wichtig ist, dass sich die Einrichtungen damit auf der Ebene der Strukturen und MitarbeiterInnen auseinandersetzen. Nur den Fokus auf die BewohnerInnen der Einrichtungen zu richten ist zu wenig. Teams sind gefordert, Wege zur Besprechung von intimen oder „schwierigen“ Themen wie Sexualität bis hin zu sexuellen Übergriffe zu finden. Und, wie gesagt, ich nehme heute große Bereitschaft und großes Interesse an so einer Auseinandersetzung war.
Wie sind nun Ihre Erfahrungen mit den Jugendlichen in den Workshops?
Interessant war, dass es zu Beginn unserer Workshops unterschiedliche Bedenken gab, etwa bezüglich des Geschlechts der Workshop-LeiterInnen. Werden junge Männer aus Afghanistan oder Syrien akzeptieren, wenn eine Frau über Geschlechtsteile spricht? Öfters haben auch BetreuerInnen vor Ort explizit männliche Workshopleiter angefragt. Wir haben dann aber trotzdem auch gemischtgeschlechtlich geleitete Workshops durchgeführt, die gut funktioniert haben. In solchen Fällen hat sich für mich gezeigt: Wenn man mit so rigiden Bildern in die Workshops geht, unterschätzt man schnell die Vielfalt der Gruppe und den Raum, der sich eröffnet, wenn man mit Jugendlichen über jene Themen, Zweifel und Unsicherheiten spricht, die sie aktuell tatsächlich beschäftigen. Die Workshops waren insgesamt überraschend unaufgeregt. Es stellt sich da auch die Frage, was stelle ich in den Vordergrund? Wieviel rede ich mit den Jugendlichen etwa über Gesetze und die Notwendigkeit der Achtung von Grenzen anderer? Wieviel Raum gibt es für Themen wie sexuelle Lust oder ganz alltägliche Fragen der Jugendlichen? Etwa „bin ich normal, bin ich attraktiv, wie lerne ich jemanden kennen, wie läuft Sex?“ Fragen zum Thema Kennenlernen kamen etwa in den bisherigen Workshops immer wieder vor und wurden dann ausführlich diskutiert. Dabei haben die Jungen einerseits über Unterschiede zwischen dem, was sie ihren Herkunftskontexten kannten oder erahnten und den Erfahrungen und Beobachtungen, die sie hier machten, gesprochen. Andererseits standen auch hier jene Fragen im Zentrum, die Jugendliche nun einmal beschäftigen und wie wir sie aus der Sexualpädagogik kennen. In Erinnerung geblieben ist mir ein Gespräch nach einem Workshop, als ein 17-Jähriger zu mir gekommen ist um nochmal nachzufragen, ob er in Österreich tatsächlich bereits Sex haben dürfe. Eine Lehrerin hat ihm nämlich einmal, so der Junge, mit strengem Blick erklärt, dass Sex für ihn hier verboten sei. Ich denke es ist wichtig zu fragen, ob wir Geflüchteten auch sexuelle Rechte zugestehen oder lediglich Pflichten einfordern?
In Freiburg wurde eine junge Studentin von einem afghanischen Flüchtling vergewaltigt und ermordet. Oder Köln, wo größere Männer-Gruppen gegen Frauen vorgingen, die Art und Weise hatte offenbar mit dem kulturellen Hintergrund zu tun. Wie sollen Medien darüber berichten, den Hintergrund nennen oder nicht?
Die Argumentation der Medien ist ja, dass sie dann über einen kulturellen Hintergrund von Personen berichten, wenn er für die betreffende Tat relevant ist. Ich habe aber den Eindruck, dass es derzeit meist andersrum läuft: Wenn ein sogenannter Migrationshintergrund bei einem Täter gefunden werden kann, ist die Geschichte plötzlich relevant, selbst wenn sie gemäß der Medienlogik sonst gar nicht berichtenswert ist. Eine bundesweite, wichtige Nachrichtensendung würde sonst wohl nicht über einen Mord in einer Regionalstadt berichten. Für diesen Zugang werden Medien meines Erachtens zu Recht kritisiert, da dadurch eine verzerrte und selektive Berichterstattung entsteht und Vorurteile geschürt werden. Ich persönlich fände es wichtig, dass Themen wie Geschlechtergerechtigkeit oder Gewalt von Männern an Frauen medial präsent sind, aber in anderer Form. Leser und Leserinnen sollten durch Berichte dabei unterstützt werden zu verstehen, wie sich Gewalt gegen Frauen darstellt und wieso sie in unserer Gesellschaft so alltäglich ist. Medien könnten dann nicht nur zu einem besseren Verständnis der Dynamiken von Männergewalt beitragen sondern auch zu ihrer Überwindung. Lediglich einen Migrationshintergrund eines Täters zu benennen hat meines Erachtens aber keinen Erklärungswert, auch wenn das in Medien oftmals so dargestellt wird.
ZUR PERSON
Paul Scheibelhofer ist Sozialwissenschaftler und Geschlechterforscher und arbeitet am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Innsbruck zu den Themen Männlichkeit, Migration und Sexualpädagogik. Bis Sommer 2016 war er Leiter von Sexualpädagogik NÖ.
Eva Maria Bachinger, geboren 1973, nach Auslandsaufenthalten in Israel und Italien arbeitet sie in Wien als Journalistin und Autorin. Buchveröffentlichungen, u.a.: „Die Integrationslüge“ (2012), „Wert und Würde – ein Zwischenruf“ (2016), jeweils gemeinsam mit Martin Schenk.
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