Der unpolitische Populist
„Besorgten“ BürgerInnen vermittelt er den Eindruck, hier trete ein junger, dynamischer und kultivierter Mensch auf, der dennoch seine Meinung vertritt. Dass seine politischen Konzepte nicht besonders originell sind, tut seiner. Essay: Vladimir Vertlib, Illustration: Eva Vasari
Vor ein paar Jahren erhielt ich von einem Projektleiter des Herrn Integrationsstaatssekretäres Sebastian Kurz eine freundliche E-Mail. Man bat mich, zusammen mit einer Reihe weiterer Österreicherinnen und Österreicher mit Migrationshintergrund, die „einen besonderen gesellschaftlichen Beitrag erbringen“, als so genannter „Integrationsbotschafter“ aufzutreten. Wir sollten anderen, vor allem jugendlichen Zuwanderern, als positive Beispiele und Vorbilder für eine gelungene Integration dienen. Dies ist zweifellos ein sinnvolles Projekt, nur stammte die Idee nicht von Sebastian Kurz, sondern von einem Verein namens projektXChange, für den ich schon seit Jahren als Integrationsbotschafter tätig gewesen war. Selbstredend wurde projektXChange nirgendwo erwähnt. Vielmehr wurde der Eindruck vermittelt, Sebastian Kurz oder er und sein Team hätten eine zündende Idee gehabt und setzten diese nun um.
Modell kopiert
Was mich ebenfalls stutzig machte, war der Titel, dem das Integrationsstaatssekretariat dem besagten Projekt verpasst hatte: Integration durch Leistung, ein Motto, unter dem die gesamte Arbeit des Staatssekretariats stand. An einem Projekt, das einen solchen Titel trägt, wollte ich nicht teilnehmen und schrieb dem Projektleiter, dass Leistung erstens keine Garantie für Integration sei, weil viele Zuwanderer aufgrund ihrer Herkunft, ihres Aussehens oder ihrer Religionszugehörigkeit auch heute noch mit Diskriminierungen zu rechnen haben. Dadurch wird ihnen die Integration, auch dann, wenn sie sich bemühen und viel leisten, also nach herkömmlichen Kriterien „fleißig“ sind, verunmöglicht. Die Betonung von „Leistung“ im Zusammenhang mit Integration sei eine typische neoliberale und konservative Vorstellung des anything goes. Sie impliziere im Umkehrschluss, dass jene, die nicht integriert sind, an ihrem Zustand selbst schuld seien – eine Unterstellung, die von der gesellschaftlichen bzw. staatlichen Verantwortung für die Integration von Zuwanderern ablenke. Außerdem suggeriere dieser Slogan, dass Zuwanderer im besonderen Maße und somit noch mehr als andere Menschen leistungsorientiert sein müssten, um sich ein Recht auf Gleichberechtigung zu erarbeiten.
Der Projektleiter, selbst ein Österreicher mit Migrationshintergrund, der eine Zeit lang ebenfalls für projektXChange tätig gewesen war, konnte meine Vorbehalte „durchaus nachvollziehen“. Es glaube aber, schrieb er mir, dass mit diesem Motto „zumindest mal ein kleinster gemeinsamer Nenner gefunden wurde, mit dem sich ein Großteil der österreichischen Bevölkerung identifizieren kann“, der also (sinngemäß) gut verkäuflich sei.
Diese kleine Geschichte wirft ein bezeichnendes Licht auf die Haltung des jungen, aufstrebenden Superstars der ÖVP, dessen Machtübernahme in seiner Partei und Anwartschaft auf den Kanzlersessel nur mehr eine Frage der Zeit zu sein scheinen. Der junge Autor, Journalist und Sozialarbeiter Thomas Wallerberger, einst als StudentInnenvertreter aktiv, kennt Sebastian Kurz noch von früher. „Ich war da und dort mit ihm konfrontiert“, erinnert sich Wallerberger heute, „bei einer Fernsehdebatte auf PULS4, in diversen Sitzungen der Bundesjugendvertretung, über Presseaussendungsscharmützel. Jedenfalls ist Kurz irgendwann 2009 auf die Idee gekommen, die ‚unibrennt’-Proteste diffamieren zu müssen. In dieser Zeit hielt ich ihn noch für einen x-beliebigen JVPler, der seinen anständigen Lebenswandel nur dadurch beweisen kann, indem er auf andere zeigt, die ihm unanständig vorkommen. Sein Aufstieg verlief dann rasant, und was mir gleich auffiel, war, dass Kurz lediglich aus Phrasen bestand und ein Gespür dafür hatte, welche Position rechts der Mitte gerade „frei“ (bzw. erwünscht) war. […] Meine persönliche Einschätzung ist, dass Kurz so sehr Establishment in der ÖVP ist, wie man es nur sein kann, und sich interessanterweise trotzdem so positioniert, als wäre er „anti-establishment...“
Spott wich der Bewunderung
Diese Einschätzung mag vielleicht pointiert erscheinen, sie ist aber absolut stimmig. Wurde der im Jahre 2011 zum ersten österreichischen Integrationsstaatssekretär ernannte, damals knapp 25jährige Obmann der JVP Wien anfangs wegen seiner Jugend und seiner „Geil-o-mobil“-Vergangenheit belächelt, so wich der Spott rasch der Bewunderung für einen überzeugend auftretenden und eloquenten Politiker, der Probleme ansprach, die in Österreich jahrzehntelang vernachlässigt oder allenfalls am Rande des politischen Tagesgeschehens thematisiert worden waren. Sprachförderung und Bildung sollten im Vordergrund stehen, ein zweites verpflichtendes Kindergartenjahr für Kinder mit mangelnden Deutschkenntnissen wurde gefordert, eine höhere Erwerbsquote für Frauen mit Migrationshintergrund angestrebt, die Einrichtung eines Islamforums geplant. Vorurteile sollten abgebaut und eine positive Stimmung gegenüber Zuwanderern und Zuwanderinnen erzeugt werden.
Sogar manche „Linken“ waren beeindruckt, doch vermochte das alles in Westeuropa nur in einem Land wie Österreich, welches sich jahrzehntelang ostentativ nicht als Zuwanderungsland begreifen wollte, positiv zu überraschen. Dabei bestritt 2011 auch bei uns kaum jemand noch, dass seitens des Staates weitreichende und nachhaltige Integrationsmaßnahmen gesetzt werden müssen. Dies entsprach längst dem Zeitgeist, und auch moderate „Rechte“ identifizierten sich mit dieser Vorstellung. Dass Integration bei Kindern sehr früh, optimalerweise schon im Vorschulalter beginnen sollte, ist eine Binsenweisheit, der nicht einmal die FPÖ widersprechen kann. Und dass integrierte Zuwanderer mit sehr guten Deutschkenntnissen vorzeitig die Staatsbürgerschaft erhalten können, wie im neuen Staatsbürgerschaftsgesetz von 2013 vorgesehen, entspricht dem von Kurz vertretenen bürgerlichen „Leistungsgedanken“. Die Konzepte von Sebastian Kurz waren weder originell noch besonders differenziert. Vielmehr zielten sie – bei optimistischer Betrachtung – darauf ab, in einem Land, das in Sachen Integration rückständig war, westeuropäische Standards, die in kurzer Zeit kaum zu erreichen waren, zumindest zu imitieren. Die Realität sah und sieht auch heute anders aus. Von echter Sprachförderung und nachhaltigen Integrationsmaßnahmen kann (betrachtet man das ganze Land und nicht einzelne Bundesländer oder Regionen) im Vorschul- und Volksschulbereich aufgrund von Geldmangel, von strukturellen Problemen und dem Mangel an ausgebildeten Fachkräften kaum die Rede sein; Vereine, die im Integrationsbereich arbeiten, erhalten weiterhin viel zu geringe Förderungen; die von Kurz geforderte „Leistung“ sollen vor allem Zuwanderer und Flüchtlinge erbringen und nicht etwa der Staat oder die Gesellschaft.
Kurz: ideale Projektionsfläche
Einige Jahre später fand sich Sebastian Kurz in einer neuen Rolle wieder. Als Anfang September 2015 Sprüche wie „Refugees welcome!“ für Begeisterung sorgten und sogar der Bundespräsident, der Kanzler und die Innenministerin für Selfies mit Flüchtlingen auf dem Westbahnhof posierten, warnte der inzwischen zum Außenminister aufgestiegene Jungpolitiker Kurz vor zu hohen Flüchtlingszahlen und verlangte nach einer baldigen Schließung der Grenzen. War das angesichts der damaligen Stimmung im Lande tollkühn? Ein politisches Pokerspiel? Wohl kaum, denn jene Bevölkerungsschicht, die Kurz als seine Zielgruppe erkannt hatte, ging weder auf Bahnhöfe, um zu klatschen, noch war sie in der Flüchtlingshilfe aktiv, sondern reagierte damals schon mit Angst und Skepsis auf die vielen Fremden, die ins Land kamen oder es durchquerten. Allerdings war diese Gruppe von Menschen damals noch still, doch war es eine Frage der Zeit, bis sie wachsen und sich lautstark zu Wort melden würde. Kurz antizipierte das und gab diesen Menschen eine Stimme. Früh genug jedenfalls, um sich ihrer Loyalität und ihrer Dankbarkeit zu versichern. Er stilisierte sich zu einer Figur, die gegen den Strom schwimmt, sich scheinbar gegen das Establishment stellt, ohne allerdings dabei jene zu verstören, die eigentlich schon immer zu den Profiteuren unserer Gesellschaft gehörten. Sein ausgeprägtes Selbstdarstellungstalent kam ihm dabei zu Hilfe.
Im Unterschied zu vielen anderen Politikern geht Kurz bei Interviews und Diskussionen nicht auf Abwehr, sondern in die Offensive, ohne dabei in der Wortwahl oder im Tonfall jene aufgeregte Stammtisch-Rhetorik zu paraphrasieren, an der sich viele Vertreter der FPÖ orientieren. Damit vermittelt er jenen „besorgten Bürgerinnen und Bürgern“, die nicht am rechten Rand stehen, mit diesem aber insgeheim sympathisieren, hier trete ein junger, dynamischer und kultivierter Mensch auf, der klar, bar jeglichen Pathos, keineswegs abgehoben, aber auch nicht allzu deftig und rustikal, ihre Meinung vertritt, einer, der rechte Inhalte ohne rechtslastige Phrasen oder Reizwörter vermittelt, einer, der auf authentische Weise einlöst, was die meisten dieser Menschen selbst gerne für sich einfordern: Nach Jahren der „politischen Korrektheit“ endlich wieder ungestraft nationalistisch, islamophob, hin und wieder auch fremdenfeindlich und (ein bisschen) böse sein zu dürfen und dabei trotzdem als respektable, weltoffene Bürgerliche der Mitte wahrgenommen zu werden. Für diese Menschen, die nie die Sau rauslassen, doch oft und immer öfter einmal ein kleines Schweinchen, ist Sebastian Kurz eine ideale Projektionsfläche.
Kurz löste ein, was man von ihm erwartete: die Schließung der Balkanroute; eine emotionslos gemachte Bemerkung, dass es „ohne furchtbare Bilder“ (im Flüchtlingslager Idomeni) „nicht gehen kann“; den Vorschlag, Asylsuchende auf einer Insel im Mittelmeer zu internieren; die Forderung nach einem Kopftuchverbot im öffentlichen Dienst, insbesondere in Schulen, bei gleichzeitiger Tolerierung von Kreuzen und Symbolen anderer Religionsgemeinschaften… Während Sebastian Kurz im Jahr 2011 mit dem Vorwurf der Grünen konfrontiert war, er übernehme ihre Ideen und Konzepte, sind es inzwischen die Freiheitlichen, die ihm das unterstellen.
Doch Sebastian Kurz ist weder ein „Rechter“ noch ein „Linker“, sondern in Wirklichkeit apolitisch. Er hat keine Ideologie und wohl auch keine Visionen, die über das Persönliche hinausgehen, und sogar sein Opportunismus scheint keine Lebenshaltung, sondern nur der Ausdruck eines apolitischen und ahistorischen Utilitarismus, der für viele junge Leute seiner Generation typisch ist: Es werden die eigenen Behaglichkeiten und Eitelkeiten gepflegt, während Kunst und Kultur, Weltanschauung und Politik allenfalls ästhetisches Beiwerk sind, mit dem man sich genauso modisch zu schmücken versteht wie mit dem neuesten Notebook oder Computerspiel.
Doch gerade dieses Image versucht Kurz, so gut es geht, zu vermeiden. Über sein Privatleben dringt kaum etwas an die Öffentlichkeit, seine meist sehr korrekte Sprache ist von gepflegter, altbackener Zeitlosigkeit, seine Kleidung, sein Auftreten sind tadellos, doch ohne auch nur einen Hauch von Extravaganz. Es geht ihm nicht wirklich um die Umsetzung nachhaltiger Konzepte, es geht auch nicht primär um Fakten, sondern um Stimmungen. Seine Politik ist populistische Attitüde. Das unterscheidet ihn von Wolfgang Schüssel, der zwar populistisch agierte, aber dennoch eisern eine neoliberale Politik umsetzte und dabei vor unpopulären Maßnahmen nicht zurückschreckte. Das unterscheidet ihn aber auch von Leuten wie H.C. Strache oder Norbert Hofer, die sich genauso nach dem Wind zu drehen vermögen, aber dennoch konsequent immer wieder zu den rechtsextremen Fundamenten ihres Denkens und Tuns zurückkehren und diese im engeren Sinne des Wortes „verkörpern“. Sebastian Kurz hingegen lässt sich treiben und lässt dabei viele Menschen glauben, er sei die treibende Kraft. Er bedient Gefühle und bleibt dabei doch stets der vermeintlich nüchterne Analytiker, der Sachen auf den Punkt bringt, auf den seine Bewunderer ohnehin alle zusteuern. Bis jetzt konnte er sich „in der zweiten Reihe“ profilieren, ohne jemals alles einlösen zu müssen, was er versprach oder anregte. Es stellt sich die Frage, ob er, sollte er einmal Kanzler werden, den „Volkswillen“ bestimmter Kreise tatsächlich konsequent umsetzt. Wenn ja, stehen uns schwere Zeiten bevor.
Vladimir Vertlib, 1966 in Leningrad, heute St. Petersburg, geboren. Seit 1981 in Österreich, ab 1993 arbeitet er als freiberuflicher Schriftsteller. Sein Theaterstück „ÜBERALL NIRGENDS lauert die Zukunft“ wurde 2016 u.a. in Salzburg und München aufgeführt. Vertlib ist Mitherausgeber der Zeitschrift „Zwischenwelt. Zeitschrift für Kultur des Exils und des Widerstands“. Seine Bücher wurden mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Anton Wildgans Preis. Vertlibs jüngster Roman „Lucia Binar und die russische Seele“ war auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis 2015. Zuvor: „Ich und die Eingeborenen“ (Thelem Verlag, Dresden 2012). www.vladimirvertlib.at
Unterstützen Sie jetzt unabhängigen Menschenrechtsjournalismus mit einem MO-Magazin-Solidaritäts-Abo