Erinnern heißt verändern
In der Nacht zum 9. November wurden nach Nazis benannte Straßennamen in Wien mit Namen von Widerstands-kämpfer*innen überklebt. Warum wir keine Nazis und Antisemit*innen ehren dürfen. Ein Beitrag im neuen MO-Magazin für Menschenrechte. Kommentar: Sashi Turkof
Das Gedenken des 9. November nahm dieses Jahr einen ganz neuen Charakter an.
Und ich spreche hier nicht über die Namensmauer, die ebenfalls am diesjährigen 9. November im Ostarrichipark im 9. Bezirk enthüllt wurde. Diese Mauer ist wichtig, vor allem deshalb, weil es das erste von der Republik Österreich errichtete Denkmal gegen Antisemitismus ist. Auch wenn es ein Projekt der schwarz-blauen Regierung war.
Wie gesagt, über dieses Ereignis spreche ich nicht.
Ich spreche davon, dass in der Nacht auf den 9. November 2021 Jüdische Aktivist*innen 23 nach Nazis benannte Straßenschilder mit den Namen von Widerstandskämpfer*innen überklebten.
Junge Jüdinnen und Juden haben die Eigeninitiative ergriffen, wie wir es so oft tun müssen.
Wir kennen das Phänomen nur allzu gut, nicht gehört zu werden und nur dann nach unserer Meinung gefragt zu werden, wenn entweder etwas Schreckliches geschehen ist, oder es gerade gut ins politische Programm passt.
Eine Entscheidung, die weh tut
Der 9. November wird in Österreich sehr groß geschrieben. Es ist ein Tag, an dem obligatorisch erinnert wird, fast so, als gäbe es kein Morgen. Und das ist der springende Punkt. Antisemitismus hört nämlich am 10. November nicht auf, jedenfalls nicht für uns. Wir müssen auch nach dem 9. November, dem 27. Jänner und dem 12. März gegen die antisemitischen Strukturen dieses Landes und dieser Gesellschaft kämpfen.
Wir müssen an allen Tagen im Jahr damit leben, dass dutzende Straßen in Wien nach Nationalsozialisten und Antisemit*innen benannt sind. Und die textliche Kontextualisierung eines Straßennamens, die lediglich darauf hinweist, wer diese Person war, die hier geehrt wird, ist ein Akt der Akzeptanz und der Hinnahme. Es ist das Hindeuten auf ein Problem, ohne es beheben zu wollen. Es ist eine Entscheidung, die wehtut.
Aber wie Alexia Weiß in ihrem Artikel in der Wiener Zeitung schreibt: „Erinnern muss nachhaltig gedacht werden.“ Erinnern muss in die Zukunft schauen und auch dann funktionieren, wenn wir nicht mehr das Privileg haben, Shoah-Überlebenden zuzuhören, da es sie schlicht und einfach nicht mehr gibt.
Eigene Normen und Privilegien hinterfragen
Erinnern heißt verändern. Es heißt die unangenehme, vielleicht auch schmerzhafte Arbeit zu leisten, seine Privilegien und Normen zu hinterfragen und die Geschichte seiner Heimat und seiner Familie aufzuarbeiten. Erinnern heißt, sich zu fragen warum die eigene Wohnstraße nach einem Mann (wie meistens) benannt ist, der aktiv dazu beigetragen hat, dass Jüdinnen und Juden systematisch ermordet wurden. Es heißt, sich damit auseinanderzusetzen, wem diese Stadt welchen Raum gibt.
Wir müssen „Erinnern“ strukturell denken und dort ansetzen wo es auch noch am 10. November ein Bewusstsein dafür gibt, dass wir unter keinen Umständen Nazis und Antisemit*innen in unserer Stadt und sonst wo ehren dürfen.
Sashi Turkof ist die Präsidentin der Jüdischen österreichischen Hochschüler*innen. Sie ist 20 Jahre alt, studiert Bildungswissenschaft und ist Künstlerin.
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