„Ein Gott, ein Ehepartner, ein Pass?“
1,2 Millionen Menschen leben und arbeiten in Österreich, dürfen aber nicht wählen. Die Zahl steigt kontinuierlich an. Hat die Demokratie ein Problem, wollen wir vom Soziologen Rainer Bauböck und dem Politikwissenschafter Gerd Valchars wissen. Ein Beitrag im neuen MO-Magazin für Menschenrechte. Text: Laurin Lorenz
Geschätzte Österreicherinnen und Österreicher und alle Menschen, die in unserem Land leben“, mit diesen Worten trat Brigitte Bierlein als erste weibliche Bundeskanzlerin der Republik ihr Amt an. Während ihr Vorgänger jede Gelegenheit nutzte, um wahlzukämpfen, war Bierleins stoische Gelassenheit wie Balsam für die von Skandalen zerrütteten Ohren jener Tage. Klar, Bierlein wusste von Anfang an, dass sie keine Wahlen gewinnen muss. Doch am Beginn ihrer Rede versteckte sich noch etwas Erstaunliches: Sie sprach nicht nur das wahlberechtigte Volk – also alle Österreicherinnen und Österreicher – an, sondern eben auch jene, die keinen österreichischen Pass haben, aber trotzdem hier leben. Bierlein machte in ihrer Anrede deutlich, dass auch all die Menschen von „Ibiza“ betroffen sind, die zwar hier leben aber bei den Wahlen nicht mitbestimmen dürfen.
Mittlerweile sind es in Österreich schon 1,2 Millionen Menschen, die „in unserem Land leben“, aber auf dem Papier nicht zu den ÖsterreicherInnen zählen. Sie werden von Jahr zu Jahr mehr. Waren es im Jahr 1999 noch neun Prozent der in Österreich lebenden Menschen, hat sich das Verhältnis in den vergangenen 20 Jahren fast verdoppelt. Bei den Wahlen 2017 waren schon 15 Prozent der möglichen WählerInnen nicht berechtigt, ihre Stimme abzugeben.
Obwohl die Bevölkerungszahl in Österreich kontinuierlich steigt, dürfen immer weniger Menschen politisch mitbestimmen. Wie kommt es zu solch einer Entwicklung? Und was bedeutet das für unsere Demokratie?
Nicht wahlberechtigt
Einer, der sich mit dieser Problematik seit Jahren beschäftigt, ist der Soziologe und Migrationsforscher Rainer Bauböck. Er leitet das transnationale Forschungsprojekt GLOBALCIT, das steht für „Global Citizenship Obvervatory“. Auf einer Online-Karte finden sich Informationen zu Staatsbürgerschaft und Wahlrecht aus allen Ländern der Welt. Bauböck folgert aus seinen Untersuchungen: „Internationale Migration führt zwangsläufig zu einer Diskrepanz zwischen der Staats- und der Wohnbevölkerung in einem Land“.
Das ist zunächst schnell erklärt: Weil die Staatsbürgerschaft ein lebenslanger Status ist und mit der Geburt erworben wird, nimmt man sie bei einer Auswanderung über die Grenze mit. Wird man in einem anderen Land sesshaft, bekommt man aber nicht automatisch die Staatsbürgerschaft jenes neuen Landes verliehen. Dadurch gibt es viele Menschen, die an ihrem langjährigen Lebensmittelpunkt nicht wahlberechtigt sind, obwohl sie die Politik des Landes meist genauso betrifft.
Auch Sonja Kittel ist eine dieser 1,2 Millionen Menschen, die in Österreich nicht wählen dürfen. Mit acht Jahren ist sie mit ihren Eltern von Deutschland nach Österreich gezogen. Seither lebt sie hier, ist in Niederösterreich zur Schule gegangen und pendelt zur Arbeit nach Wien. Seit mehreren Jahren zahlt sie Steuern, politisch darf sie weder auf Bundes- noch auf Landesebene ihre Stimme abgeben. Da Österreich die doppelte Staatsbürgerschaft verbietet, müsste sie zuerst ihren deutschen Pass abgeben, um Österreicherin zu werden.
Das will sie nicht: „Ich fühle mich als Europäerin. Meine Familie lebt noch in Deutschland und viel meiner Identität verorte ich dort“, sagt Sonja. Wie viele MigrantInnen der ersten Generation, will sie die Bindung zu ihrem Geburtsland nicht komplett aufgeben. Wer weiß: Eines Tages möchte sie vielleicht zu ihren Großeltern nach Hessen zurückgehen.
Staatsbürgerschaft: ein veraltetes Konzept?
Sonjas Biographie zeigt, dass die Staatsbürgerschaft ihrem Lebensweg gleichsam hinterherhinkt. Das geht vielen so. Gerade innerhalb der Europäischen Union ist es keine Seltenheit, einen Lebensabschnitt in einem anderen Land zu verbringen, später aber zurückzugehen oder weiterzuziehen. Eine Staatsbürgerschaft kommt mit diesem Tempo nicht mit. Sie haftet den Menschen lebenslang an.
Dies hat auch einen guten Grund: Das internationale Völkerrecht besagt, dass „Staatenlose“ vermieden werden sollen, weil sie schutzlos sind. Gerade die europäischen „Staatenlosen“ nach dem Ersten Weltkrieg wurden schnell Opfer von Gewalt, weil sich kein Staat für sie zuständig fühlte. Deshalb ist es nur unter besonderen Umständen möglich, jemanden wieder auszubürgern.
Rainer Bauböck ortet das Problem jedoch vielmehr darin, dass sich das Konzept der Staatsbürgerschaft nicht angepasst hat. Österreich habe wie viele andere Staaten durchaus auf Migration reagiert, aber eben nur in Bezug auf die Ausgewanderten. „Während man den Zugang zum Wahlrecht für AuslandsösterreicherInnen erleichtert hat, wurden die Kriterien für die Einbürgerung sukzessive verschärft“, so Bauböck.
Einwanderungsland Österreich
Gerd Valchars ist Politologe in Wien und analysierte beim GLOBALCIT-Projekt die österreichische Situation. Im Vergleich mit anderen europäischen Ländern hat Österreich einen der höchsten Anteile von Zuwanderung an der Bevölkerung. Jedoch definiert sich Österreich selbst nicht als Einwanderungsland. Im Gegenteil: Man sei stolz darauf, eines der strengsten Staatsbürgerschaftsgesetze Europas zu haben, so Valchars.
Während seiner Forschung gewann er den Eindruck, dass Staatsbürgerschaft hierzulande auf dieselbe Ebene wie Religion oder Partnerschaft gestellt werde. Wie man in einer traditionellen Vorstellung nur einen Gott oder nur einen Partner haben könne, so hält es Österreich auch mit dem Pass: „Das ist eine völlig überkommene Sichtweise, die der heutigen Realität nicht mehr entspricht“, sagt Valchars.
Das Thema Staatsbürgerschaft müsse in Österreich für symbolische Einwanderungspolitik herhalten, sagt Valchars. „Erschwert man den Zugang zur Staatsbürgerschaft, wertet man den Pass zu einem Luxusgut ab, mit dem sich jene, die ihn besitzen, besser als die anderen fühlen können.“
Anders ist das zum Beispiel in Schweden: Seit den 1970er-Jahren hat das skandinavische Land nicht nur viele Gastarbeiter, sondern auch Flüchtlinge empfangen. Auf lokaler Ebene konnten diese Neuangekommenen schnell wählen, auch der Zugang zur Staatsbürgerschaft wurde erleichtert. Bis heute gibt es in Schweden weder Sprach- noch Länderkundetests, auch keine Einkommenskriterien bei der Beantragung der Staatsbürgerschaft. Auch die Doppelstaatsbürgerschaft ist erlaubt.
Reformen, aber welche?
Wie viele Einwanderer müssen zu den 1,2 Millionen also noch dazukommen, dass sich in Österreich etwas bewegt? Das lässt sich so nicht sagen, entgegnen Valchars und Bauböck. Es gebe in einer Demokratie keine klar definierte Schmerzensgrenze, die festsetzt, wie viele Nichtwahlberechtigte ein Land verträgt. Allerdings sind die Konsequenzen der aktuellen Entwicklung fatal: Weil jene Menschen ohne österreichische Staatsbürgerschaft tendenziell öfters in Städten leben, jünger und sozial schwächer sind, sind die Wahlberechtigten im Verhältnis zur gesamten Wohnbevölkerung zunehmend überaltert, verländlicht und sozial wohlhabender. Das heißt auch, dass für bestimmte Gruppen weniger Politik gemacht wird, weil die Wählerschaft nicht die tatsächliche Bevölkerung des Landes widerspiegelt.
Um sich einer modernen Welt, die von Migration und multiplen Identitäten geprägt ist, anzupassen, bräuchte es politische Reformen. Entweder könnte das Wahlrecht von der Staatsbürgerschaft entkoppelt werden. Dafür wäre eine Verfassungsmehrheit im Nationalrat notwendig. Oder der Zugang zur Staatsbürgerschaft wird erleichtert. Das wäre auch mit einer einfachen Mehrheit möglich. Die Bundesparteien behandeln das Thema aber bisher nur stiefmütterlich.
Der Pass ist egal
Auch Sonja war von Bierleins Antrittsrede überrascht. Bisher habe sie noch keinen Bundeskanzler gehört, der auch die hier lebenden Menschen ohne österreichischen Pass direkt ansprach.
Über SOS Mitmensch ist Sonja an der „Pass Egal Wahl“ beteiligt. Fünf Tage vor der Nationalratswahl werden eigene Wahllokale eröffnet, in denen Menschen, die in Österreich leben, aber keinen österreichischen Pass haben, ihre Stimme abgeben können. Selbst die Briefwahl ist möglich!
Auf die letzte „Pass Egal Wahl“ vor zwei Jahren hat sich Sonja mit ihrer Schwester und ihrer Mutter vorbereitet. „Es war schön zu sehen, dass meine Stimme zählte, auch wenn es nur eine symbolische Geste war“, sagt sie. „Als wir entschieden zur Wahl zu gehen, diskutierten wir plötzlich viel intensiver über die einzelnen Parteiprogramme.“ Sonja fordert von der Politik, sich für ein Wahlrecht für alle, die hier in Österreich leben, einzusetzen. Der jetzige Zustand sei einer modernen Demokratie unwürdig, findet sie.
Unterstützen Sie jetzt unabhängigen Menschenrechtsjournalismus mit einem MO-Magazin-Solidaritäts-Abo