Empathie ist erlernbar
Zehn Jahre sind seit dem Aufstand der dschihadistischen Boko Haram in Nigeria vergangen. Noch immer kämpfen die Islamisten für den Gottesstaat und stützen sich dabei auf internationale Netzwerke. Die Psychologin Fatima Akilu arbeitet mit zurückgekehrten TäterInnen und traumatisierten Opfern. Ein Beitrag im neuen MO-Magazin für Menschenrechte. Interview: Brigitte Theißl
Mit Ihrer NGO, der „Neem Foundation“, arbeiten Sie Radikalisierung entgegen. Im Kampf gegen Terror und Extremismus sei ein „hard approach“ nicht ausreichend, ist auf Ihrer Website zu lesen. Was bedeutet das für Ihre tägliche Arbeit?
Wir haben in der Neem Foundation einen ganzheitlichen Ansatz in der Bekämpfung von Gewalt und Extremismus entwickelt, ein wichtiges Element dabei ist die Resozialisierung, die soziale Wiedereingliederung. Viele junge Menschen haben sich Boko Haram angeschlossen, aber auch ältere Menschen, ganze Familien, vereinzelt auch Frauen. Boko Haram hat außerdem Tausende Menschen entführt. Wenn sie aus der Gefangenschaft zurückkehren, fehlen ihnen oft jegliche Ressourcen. In unseren Programmen unterstützen wir sie dabei, in ihrem neuen Leben Fuß zu fassen, wir versuchen aber auch herauszufinden, welche Ideologien sie mitgebracht haben und was die Folgen für ihre psychische Gesundheit sind. Die Terror-Gruppe hat viele Menschen schwer traumatisiert zurückgelassen. Das Ziel ist es, sie wieder in ihre Communities zu integrieren. Das erfordert auch mühsame Arbeit mit dem Umfeld. In vielen Dörfern müssen schließlich die Familien der Opfer mit jenen der Täter zusammenleben.
Um zu verstehen, wie gewalttätige, extremistische Gruppierungen neue Mitglieder rekrutieren, betreiben wir außerdem Forschung vor Ort und verfassen dazu auch Strategiepapiere. Was sind erste Anzeichen einer Radikalisierung, wann müssen die Alarmglocken schrillen? Ich habe früher für die Regierung gearbeitet, wo natürlich ganz andere Ressourcen zur Verfügung standen. Als NGO haben wir diese Mittel nicht, also versuchen wir uns eng zu vernetzen und unsere Ergebnisse EntscheidungsträgerInnen zur Verfügung zu stellen.
In der internationalen Berichterstattung war vor allem von der Entführung von Frauen durch Boko Haram zu lesen. Warum schließen sich Frauen freiwillig der Terrorgruppe an?
Die meisten Frauen haben sich nicht freiwillig angeschlossen: Sie wurden entführt, verschleppt, von ihren Vätern, Brüdern oder Ehemännern zu Boko Haram gebracht. Wir dürfen aber nicht übersehen, dass sich eine sehr kleine Gruppe sehr wohl von Boko Haram angezogen fühlte. Es gibt Frauen, die diese extremistische Ideologie teilen, es ist oft sehr schwierig, mit ihnen in De-Radikalisierungsprogrammen zu arbeiten. Teil von Boko Haram zu sein verschaffte ihnen einen enormen Statusgewinn. Wir schauen uns die Rolle von Frauen in der Gruppierung also sehr genau an. Das wohl größte Problem von Frauen, die Opfer von Boko Haram wurden und in ihre Communities zurückkehren, ist eine Re-Viktimisierung. Die Betroffenen erhoffen sich Empathie und Unterstützung – und werden häufig feindselig empfangen, vor allem, wenn sie schwanger wurden oder Kinder mitbringen. Wenn wir den Faktor Geschlecht betrachten, dürfen wir außerdem nicht vergessen, dass Männer nicht nur Täter sind, viele Buben und junge Männer haben während des Aufstands enorme Gewalt erlebt und sind schwer traumatisiert.
In der Neem Foundation arbeiten Sie mit AussteigerInnen und Opfern einer der gefährlichsten Terror-Gruppen weltweit. Wie lebensbedrohlich ist Ihre Arbeit?
Unsere Arbeit ist enorm gefährlich. Wir begeben uns in die Gebiete von Terrorgruppen, damit gehen große Gefahren einher. Mein Zugang ist, dass ich diese Entscheidung bewusst getroffen habe, ich bin mir der Risiken bewusst. Außerdem haben viele Menschen keine Wahl und müssen in diesen Gebieten leben. Sie benötigen dringend unsere Unterstützung – das ist es, was uns in unserer täglichen Arbeit antreibt.
Die nigerianische Regierung kämpft bisher erfolglos gegen Boko Haram, seit rund zwanzig Jahren ist die Gruppierung in Nigeria und auch in benachbarten Staaten aktiv. Was macht es so schwierig, sie zurückzudrängen?
Die wohl größte Schwierigkeit ist ihre Widerstandsfähigkeit. Boko Haram hat sich internationale Netzwerke aufgebaut, so gelingt es ihnen auch an Waffenlieferungen zu kommen, mittlerweile werden sie auch von Isis großzügig unterstützt – bei der Logistik, der Ausbildung und gemeinsamen Operationen. Obwohl sie eine relativ kleine Gruppe sind, macht dieses Netzwerk es schwierig, sie nachhaltig zu bekämpfen – und sie sind nach wie vor in der Lage, neue Mitglieder zu rekrutieren.
Als Psychologin arbeiten Sie seit vielen Jahren mit Tätern und Täterinnen, mit Sexualstraftätern und TerroristInnen. Was ist die größte Herausforderung in der Arbeit mit Menschen, die zu grausamen Gewalttaten fähig waren?
Die größte Herausforderung ist wohl, sie zu einer Veränderung zu motivieren. Es gibt Menschen, für die Gewalt ein wichtiger Bestandteil ihrer Identität geworden ist – eine Verhaltensänderung ist daher sehr schwierig anzuleiten. Gewalt bedeutet auch Macht, Kontrolle über andere auszuüben. Damit die Täter diese aufgeben, müssen wir einen entsprechenden Anreiz bieten. In meiner Resozialisierungs-Arbeit setze ich auf Empathie als Schlüssel-Faktor. Es ist wichtig, Menschen dazu zu bringen, sich in andere hineinzuversetzen, zu verstehen, was ihre Gewalt bei den Betroffenen bewirkt. Ich bin davon überzeugt, dass man nicht als empathischer Mensch geboren wird oder eben nicht – Empathie ist vielmehr erlernbar.
In der Arbeit mit ideologiegetriebenen TerroristInnen ist auch die Auseinandersetzung mit den dahinterliegenden Glaubenssätzen von großer Bedeutung. Im Fall von Boko Haram arbeiten wir mit Imamen zusammen und beschäftigen uns mit dem Koran, der als Rechtfertigung für die Gewalttaten herangezogen wird. Wir zeigen ihnen, dass ihre extremistischen Überzeugungen im Koran so gar nicht zu finden sind.
Sie setzen sich als Aktivistin auch für Frauenrechte ein. Im weltweiten Ranking des Global Gender Gap Reports 2018 liegt Nigeria abgeschlagen im letzten Drittel. Wie schätzen Sie die aktuelle Lage ein – nimmt die nigerianische Regierung Gleichstellungspolitik ernst?
In Sachen Frauenrechte haben wir noch einen langen Weg vor uns. Allein, wenn wir die Repräsentation von Frauen auf verschiedenen politischen Ebenen in den Blick nehmen, schaut es düster aus. Von der aktuellen, wiedergewählten Regierung wurden nur sieben Frauen von insgesamt 43 Personen für das Kabinett nominiert. Das ist einfach nicht gut genug. In meiner Arbeit im Bereich von Sicherheit und Gewaltprävention bin ich auch immer wieder enttäuscht davon, wie wenig Frauen als Entscheidungsträgerinnen ernstgenommen werden. Wenn es darum geht, junge Menschen zu integrieren, soziale Arbeit zu leisten, stützt man sich auf Frauen – aber man blendet sie einfach aus, wenn es um politische Prozesse und Führungspositionen geht. In Nigeria haben wir eine junge Generation gut ausgebildeter Frauen, für die es viel zu wenige Möglichkeiten gibt, das ist ein großes Problem für die Zukunft unseres Landes.
ZUR PERSON I Fatima Akilu
Die Psychologin Fatima Akilu ist Direktorin der Neem Foundation, und Mitglied der global vernetzten Women’s Alliance for Security Leadership (WASL). Im Nordwesten Nigerias wurden im Zuge des Terrors durch Boko Haram 20.000 Menschen getötet und rund zwei Millionen Menschen vertrieben. Nigerianische Gefängnisse sind überfüllt mit Männern, die der Terrorgruppe angehören oder verdächtigt werden. Im Jahr 2012 suchte Nigerias Präsident Goodluck Jonathan nach neuen Ansätzen der De-Radikalisierung, Akilu erhielt den Auftrag, das erste Anti-Extremismus-Programm des Landes zu leiten.
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