„Wir sparen am System und nicht an den Menschen“
Prüfen wir diese Behauptung der schwarz-blauen Regierung am Beispiel ihrer wichtigsten Maßnahmen. Ein Überblick. Kommentar von Stefan Schulmeister.
1. Nach einer erfolgreichen Testphase wurde die „Aktion 20.000“ gestrichen. Dadurch hätten bis zu 20.000 Langzeitarbeitslose über 50 für 2 Jahre einen Job bei Gemeinden oder NGOs bekommen - trotz Wirtschaftsaufschwungs haben sie kaum Chancen auf Beschäftigung. Gekostet hätte die Aktion fast nix, statt der Notstandhilfe wären die Jobs gefördert worden.
2. Die Mittel für das „Integrationsjahr“ des AMS zur Qualifizierung von Asylberechtigten werden halbiert. Die Ausbildungsbeihilfe für Lehrlinge über 18 Jahre wird ebenso halbiert. Auch das trifft in erster Linie Geflüchtete.
3. In den Schulen wird die Förderung von Deutschkursen um 80 Millionen Euro gekürzt. Auch die verzögerte Umsetzung der Ganztagsschule benachteiligt Kinder mit Migrationshintergrund am meisten.
4. Mit dem „Arbeitslosengeld neu“ wird die Notstandshilfe abgeschafft. Langzeitarbeitslose fallen in die Mindestsicherung, müssen davor aber ihr Vermögen aufbrauchen. Überdies unterliegen sie dann einer „Arbeits- und Teilhabepflicht“ (das gibt es nirgendwo sonst).
5. Der Zugang zur Altersteilzeit wird durch Anhebung des Eintrittsalters um 2 Jahre erschwert.
6. Die mögliche Arbeitszeit wird auf 12 Stunden pro Tag ausgeweitet. Das verkürzt die Überstundenentgelte (Zeitausgleich über den Durchrechnungszeitraum).
7. Das Investitionsvolumen der ÖBB wird bis 2022 um etwa 2 Mrd. Euro reduziert. Die Verlagerung zum öffentlichen Verkehr wird dadurch beeinträchtigt.
8. Der Bund zieht seine Garantie für Kredite der „Wohnbauinvestitionsbank“ zurück und erschwert so die Finanzierung des sozialen Wohnbaus.
9. Die öffentliche Beschäftigung wird lediglich im Bereich „innere Sicherheit“ ausgeweitet, bei Bildung, Gesundheit und Soziales wird aber gespart, ebenso in der Justiz (einschließlich Bewährungshilfe) und bei den Steuerprüfern (sie „erwirtschaften“ mehr als sie kosten).
10. Die Allgemeine Unfallversicherungsanstalt (AUVA – sie wird nur von Unternehmen finanziert) soll aufgelöst werden, wenn sie nicht 500 Millionen Euro einspart - das wären 30% ihrer Behandlungskosten. Die Versorgung nach Unfällen wird sich in jedem Fall verschlechtern.
Alle 10 Maßnahmen fehlten in den Wahlprogrammen von ÖVP und FPÖ. Die Aussage von Kanzler Kurz „Wir werden tun, was wir für richtig halten, weil wir dafür gewählt wurden“ ist falsch. Ähnliche Maßnahmen fanden sich in den Wahlprogrammen dann, wenn sie gegen Flüchtlinge gerichtet waren. Auch dies will die Regierung umsetzen:
11. Die Mindestsicherung für Asylberechtigte wird auf 560 Euro gesenkt, das ist weniger als die Hälfte des Existenzminimums.
12. Die Familienbeihilfe für im Ausland lebende Kinder wird dem dortigen Preisniveau angepasst. Für tausende Frauen aus Osteuropa, welche unsere Pflegebedürftigen betreuen, bedeutet dies eine Einkommensminderung um bis zu 30 Prozent. Denn sie werden – rechtswidrig - als Scheinselbständige behandelt und mit einem Hungerlohn bezahlt.
13. Der Familienbonus ermöglicht es Eltern, pro Kind 1.500 Euro von der Steuer abzusetzen. Bezieher von Einkommen bis zu 2.300 Euro (das sind 56 Prozent der Unselbständigen) werden bei zwei Kindern den Kinderbonus nicht voll nützen können, da sie weniger als 3.000 Euro Steuer bezahlen. Das gilt auch für die meisten Landwirte und Ein-Personen-Unternehmer, insbesondere wenn sie mehr als zwei Kinder haben.
14. Als Ausgleich wurde eine Sonderreglung für Alleinerzieherinnen geschaffen (sieekommen 250 Euro statt der 1.500 Euro). Zusätzlich wird der Arbeitslosenversicherungsbeitrag (ALVB) für Personen mit einem Brutto-Lohn zwischen 1.342 und 1.948 Euro gesenkt, im Durchschnitt um etwa 300 € pro Jahr (also um 20 Prozent dessen, was Gutverdiener pro Kind bekommen). Das knappe Drittel jener Menschen, die weniger als 1.342 Euro verdient, bekommt nix, weil sie ja keinen ALVB bezahlen.
Dem steht gegenüber:
15. Die Mehrwertsteuer wurde für Tourismus-Betriebe von 13 Prozent auf 10 Prozent gesenkt.
16. Die Körperschaftssteuer wird gesenkt – laut Wahlprogramm der ÖVP sollte sie auf nicht entnommene Gewinne halbiert werden, was dem (Sozial)Staat 4,6 Milliarden Euro kostet und den reichsten Reichsten ebenso viel bringt.
17. Den gesetzlichen Interessensvertretungen drohen Kürzungen ihrer Einnahmen, wenn sie nicht „Reformen“ umsetzen. Angesichts der vielfältigen Aufgaben der Vertretung von fast 4 Millionen Arbeitnehmern und der Beiträge von durchschnittlich lediglich 7 Euro pro Monat, stellt dieser Punkt in erster Linie eine Bedrohung für die Arbeiterkammern dar.
18. Schulanfänger, die nicht gut (genug) Deutsch können, werden in eigenen „Förderklassen“ zusammengefasst, also von den anderen Kindern separiert (wenn sie unter sich bleiben, lernen sie natürlich langsamer Deutsch als im Kontakt mit „unseren“ Kindern). Unter dem Titel besserer Integration wird das Tragen von Kopftüchern in der Volksschule verboten.
Mögen alle 18 Maßnahmen auch wie ein Sammelsurium erscheinen, so sind sie doch durch zwei große Leitlinien strukturiert.
Erstens: Mit einer Verspätung von 20 bis 30 Jahren gegenüber Ländern wie Großbritannien oder Deutschland soll auch in Österreich das neoliberale Programm umgesetzt werden. Dazu gehört die Schwächung von Sozialstaat und Arbeitnehmervertretungen, insbesondere durch Senkung von Sozialtransfers („Stärkung der Leistungsanreize“), durch Flexibilisierung des Arbeitsmarktes sowie durch Begünstigung der „Leistungsträger“ und Vermögenden.
Zweitens: Während die Rhetorik der Regierung das Ziel der Integration der „Fremden“ hoch hält, zielt die Praxis auf ihre systematische Schlechterstellung ab und wird so Zwietracht zwischen ihnen und den „Eingesessenen“ schüren.
Das macht politisch Sinn: Die Neoliberalisierung Österreichs wird das Vertrauen in den Sozialstaat unterminieren und die Angst vor Deklassierung bei den unteren 50 Prozent verstärken. Deren Gefühle von Verbitterung bis Wut lassen sich umso besser gegen „die (neuen) Fremden“ richten, je mehr Letztere sich ausgestoßen fühlen und sich in ihre jeweilige nationale Gruppe zurückziehen. Sie fallen dann den „Österreichern“ unangenehm auf, in Parks, auf ihren Treffplätzen, in den Wohnghettos und in der Straßen- bzw. U-Bahn.
Deshalb sollen schon die kleinen Kinder spüren, dass sie nicht zu uns gehören – pädagogisch sind die „Deutschklassen“ unsinnig und wurden daher von Experten aller Lager verurteilt (zugleich zeigt sich der Opportunismus eines ehemaligen Wissenschaftlers als Minister).
Deshalb hat man das Problem der Volksschülerinnen mit Kopftuch erfunden. Mit dem Verbot wird ein Zeichen gesetzt: Eure religiösen Symbole zählen nichts (die Kippa darf ein jüdischer Bub natürlich tragen, das wird manche Muslime zusätzlich ärgern).
Deshalb sollen auch die älteren Fremden weniger Deutschkurse bekommen, sei es in der Schule oder im Integrationsjahr.
Deshalb wird gerade an der Qualifizierung von Flüchtlingen gespart.
Deshalb sollen gerade sie – wenn sie arbeitslos bleiben - nur das halbe Existenzminimum als Mindestsicherung bekommen.
Man darf damit rechnen, dass Ausgestoßene und Erniedrigte in (abstoßend) höherem Ausmaß drogenabhängig, gewalttätig oder sonst kriminell werden als die“ Eingesessenen“. Dies liefert „Heute-Krone-Österreich“ Schlagzeilen und Gelegenheiten, dem jungen Kanzler zu huldigen, wofür sich dieser wiederum mit Steuersenkungen und Sonderehrungen (Eva Dichand wird Universitätsrätin) bedankt.
Für Sebastian Kurz macht das alles Sinn: Der „Verrat“ der FPÖ an den „kleinen Leuten“ wird die FPÖ einiges kosten („Rezept Schüssel“). Kurz selbst verdankt seinen Aufstieg den Flüchtlingen – da immer weniger kommen, muss er mit den Vorhandenen sein Auslangen finden. Dazu muss Zwietracht gedeihen zwischen ihnen und den „echten Österreichern“.
Für die Gesamtgesellschaft führt dieser Weg freilich in eine (zwischen)menschliche Katastrophe.
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