"Eigentlich ist es blöd, dass wir miteinander sprechen“
Der Schauspieler Samuel Koch ist seit seinem Unfall bei der TV-Show "Wetten, dass...?" querschnittgelähmt. Ein Gespräch über sein zweites Leben, das "Modethema" Inklusion und eine neu erfahrene Demut. Interview: Eva Maria Bachinger
Herr Koch, werden Sie als Schauspieler auch kritisiert?
Ja, zunehmend, zum Glück, darüber freu ich mich auch. Ich wage zu behaupten, in Fachkreisen mittlerweile als Schauspieler ernstgenommen zu werden. Es ist für mich ein größeres Kompliment, wenn mir auch mal gesagt wird, was nicht so toll war. Ich schließe mich aus der Leistungsgesellschaft nicht aus und will auch nach meiner Leistung beurteilt werden.
Trotzdem sind Sie als Schauspieler im Rollstuhl eine Ausnahme.
Ja, ich habe die Aufnahmeprüfung vor meinem Unfall gemacht und konnte die Ausbildung danach fortsetzen. Es gab aber kürzlich einige Lockerungen. Es sprechen auch Rollstuhlfahrer vor oder Transsexuelle, auch die Altersgrenze wurde an manchen Häusern gestrichen. Da kommt was in Bewegung.
Im Stück „Menschenfeind“ spielen Sie Philinte, der auf der Bühne nur sitzt. Ist die Rolle ursprünglich so angelegt oder wurde sie an Sie angepasst?
Es ist bewusst so angelegt. Er sitzt so, weil er in sich ruht. Womit sich die anderen noch abkämpfen, hat er schon abgeschlossen. Das hat weniger mit mir zu tun, denn es ist tatsächlich das erste Stück, wo ich nur sitze. Wir haben in verschiedenen Stücken schon viel ausgelotet. Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt.
Wie ist es nun für Sie, wenn alle anderen auf der Bühne tanzen, springen, laufen? Ist es nach wie vor eine Wunde?
Eine vernarbte Wunde. Früher war ich oft rund ihrer Unbeweglichkeit. Da war kein Bewusstsein dafür da, wie man geht, wie man wirkt, wie man mit seinem Körper umgeht. Das war ein wenig überheblich. Als ich zurückkam, war ich der Unbewegliche und musste beim Bewegungsunterricht zuschauen. Das war sehr hart und schmerzhaft. Aber es war eine radikale, effektive Konfrontation. Ich bin es also auch ein wenig gewohnt und komme meistens ganz gut damit klar. Manchmal gibt es natürlich so Momente, ach, wenn ich doch nur zeigen könnte, wie man das richtig macht.
Verstehen Sie den „Menschenfeind“?
Absolut. Ich spiele in dem Stück den besten Freund des Menschenfeindes. Ich kann beide Pole nachvollziehen. Er beschreibt sich als ehrlich, er kann nicht anders als ehrlich sein, aber er eckt in der Gesellschaft damit nur an. Meine Rolle sagt, wenn man mich anlächelt, lächle ich zurück. Der Menschenfeind sagt, wenn ihm nicht nach lächeln ist, lächelt er nicht zurück. Beides hat seine Berechtigung. Denjenigen, der zurücklächelt, bezeichnet er als Heuchler und sich als ehrlich. Doch was ist ehrlich, was ist wahrhaftig oder heuchlerisch?
Sie sind kein Menschenfeind. Sie lächeln zurück.
Kann sein. Ich bin ein Heuchler. Ja, ich lache lieber als zu weinen. Es gibt natürlich tausende Gründe, worüber man verzweifeln könnte. Auch in meinem Leben. Das fängt bei mir morgens an, wenn ich nicht selbstständig aufstehen kann. Ich könnte heulen und verzweifeln, und so geht es weiter beim Nachrichtenhören. Krieg, furchtbare Dinge passieren in der Welt, Jugendliche verunglücken, Menschen sprechen nicht mehr miteinander, erkranken an Krebs. Es gibt viele Grausamkeiten mitten unter uns, man könnte den ganzen Tag heulen und schimpfen. Aber mir gefällt das nicht. Ich bin dabei aber nicht ignorant und blende das Schlechte nicht aus.
Im neuen Film „Draußen in meinem Kopf“ spielen Sie Sven, einen Schwerkranken, der sehr abgeklärt ist.
Er ist auch sehr ehrlich und verbittert, aber auch egoistisch und manipulativ um Andere für seine Zwecke zu missbrauchen. Auch deshalb wurde diese Rolle für mich attraktiv. Ich wollte von jeher keine Opferrollen spielen, keine Behinderten. Deshalb war ich bei dem Drehbuch zuerst sehr skeptisch, aber es stellte sich schnell heraus, dass Sven kein Opfer ist, sondern im Gegenteil ein Täter, der ziemlich viel Unheil anrichtet.
Sie werden demnächst einen gemeinnützigen Verein gründen und wollen den Angehörigen helfen. Warum ist Ihnen das wichtig?
Es gibt in Deutschland viele Stiftungen, die sich um Erkrankte, Versehrte kümmern, aber wenig bis nichts für Angehörige. Ich bekomme fast täglich Zuschriften von Angehörigen, die mich um Hilfe und Rat bitten. Gleichzeitig gibt es Anfragen, wie kann ich helfen? Wir wollen also Angebot und Nachfrage zusammenbringen, Hilfesuchende und Helfer. In der Reha-Klinik war ich sehr privilegiert mit Familie und Freunden, die immer da waren. Ich habe gesehen, dass bei anderen Patienten niemand am Krankenbett stand, weil durch einen Unfall Familien zerbrochen sind. Das sollte nicht sein, deshalb ist der Gedanke entstanden, Angehörige zu stärken.
Es wird viel getan, um Inklusion zu erreichen. Aber in den Medien wird über Sie als Held berichtet, der sein Schicksal gut meistert. Wäre es nicht besser, wenn es mehr Berichte über das normale Alltagsleben von behinderten Menschen gäbe?
Das ist eine gute Frage, die mir noch nie gestellt wurde. Wenn man auf Unterschiede hinweist, verstärkt man sie. Also, eigentlich ist es blöd, dass wir nun miteinander sprechen. Beim Modethema Inklusion ist nur dann etwas erreicht, wenn man es nicht mehr zum Thema macht. In vielen Institutionen versucht man Inklusion durch Anwendungskonzepte, Arbeitskonzepte, Verhaltenspläne zu erreichen. Wer will aber schon teilhaben an der Gesellschaft, nur weil es auf dem Plan steht? Auf meiner Schauspielschule war es gut, dass keiner ein Konzept und einen Plan hatte. Vielleicht waren manche auch überfordert, aber man hat einfach mal positiv gedacht, nicht auf die Unterschiede hingewiesen, sondern ausprobiert. Ich sag es jedem Regisseur immer wieder: Bitte keine Samthandschuhe, bitte keine Unterschiede machen. Ich würde mir wünschen, bitte kein weiteres Inklusionsinterview! Es hat natürlich auch seine Berechtigung. Es ist sicher besser, wenn man darüber spricht und die Menschen nicht wie vor 75 Jahren weg-euthanasiert.
Was könnte unser Gespräch bringen?
Unser Gespräch könnte zur Sensibilisierung für alle anderen, denen es ähnlich wie mir geht, beitragen. Es gibt leider nach wie vor negative Beispiele. Ein Mädchen schreibt mir, dass es an ihrer Schule gehänselt wird und es keinen Lift gibt. Ich habe auch eine andere Schule kennengelernt, wo eine Schülerin gut integriert war. Ihre Klasse war ihre Rettung und hat sie überallhin mitgetragen, auch durch London. Im Grunde ist es deshalb schon wichtig auf solche positiven Beispiele hinzuweisen, um der anderen Schule zu zeigen, was alles geht. Solange wir uns zum Interview treffen, weil ich im Rollstuhl sitze und nicht wegen eines anderen Themas, ist es offenbar noch nötig darüber zu sprechen.
Bei bestimmten Themen ist Ihnen Privatsphäre wichtig. In klassischen und sozialen Medien findet man aber viele private Fotos, vor allem von der Hochzeit und den Flitterwochen. Ist das nötig, um der Neugier nachzugeben?
Privat ist Alltägliches. Die Hochzeit war ein einmaliges Ereignis, ebenso die Flitterwochen. Darüber kann einmal berichtet werden. Davon abgesehen hätten wir es nur verhindern können, wenn wir die Hochzeit spontan irgendwo im Ausland gefeiert hätten. Ein Journalist, dem wir vertraut haben, hatte die persönliche Einladungskarte in der Presse abdrucken lassen und somit war Zeit, Ort und Ablauf öffentlich bekannt. Zu 99,9 Prozent werde ich von den Medien anständig und fair behandelt. Manchmal, zum Beispiel zur Hochzeit, war es einfach zu viel.
Da Sie in Ihren Büchern viel preisgeben, hat man nach der Lektüre das Gefühl Sie zu kennen. Sind viele Begegnungen vielleicht auch deshalb distanzlos?
Vor kurzem wurde ich von einer Frau auf der Straße angesprochen und sie hat mir ihr ganzes Leben erzählt. Das passiert immer wieder und ist dann oft zu viel und überfordernd für mich. Aber nach meinen Konzertlesungen nehme ich mir immer Zeit für Gespräche. Das ist oftmals der schönste Teil des Abends. Viele glauben, ich habe es geschafft, alles ist toll, ich bin nur glücklich. Aber es ist nicht alles Gold was glänzt, das versuche ich auch immer einfließen zu lassen. Wenn man mir dann sagt, wie sehr man mich bewundert, was ich sage, habe so geholfen, danke, danke, danke, bin ich immer wieder mal verführt zu sagen, keine Sorge, du wirst auch wieder mal in ein Loch fallen, ganz plötzlich, so spielt das Leben. Danach geht es aber wieder bergauf. Darauf ist auch Verlass. Ich fühle mich oft mythisch überhöht. Man braucht ja bei mir auch nichts schönzureden, vieles ist wirklich kacke und mühsam.
Vielleicht brauchen viele Menschen es zur Beruhigung, zu hören, dass es jemand geschafft hat und nun immer glücklich ist.
Ja, aber das ist utopisch. Das Leben läuft in Wellen ab.
Die Grenzen in Ihrem Alltag führen Sie in die Tiefe?
Zur Demut. Die Grenzen zeigen mir täglich auf, wie wenig wir kontrollieren können, wie wenig sicher etwas ist, wie sehr wir voneinander abhängig, und positiv gesehen, miteinander verbunden sind. Die Demut ist für mich die wertvollere Form des Mutes. Früher meinten viele, ich sei so mutig, im Sport, im Leben. Doch ich war nie mutig, ich hatte nur einfach keine Angst. Mutig ist man dann, wenn man Angst überwindet, aber keine Angst zu haben, ist nicht mutig. Die Grenzen, denen ich heute ausgesetzt bin, halten mich zwangsläufig am Boden und zwingen mich zur Demut.
Gibt es eine Frage, die Sie nicht mehr hören können?
Jene über den Unfall, aber man kann mich alles fragen, ich muss ja nicht immer darauf antworten. Wenn ich eine statistische Erhebung machen würde, ist die Frage am häufigsten: Was gibt Dir Kraft? Aber die werde ich auch nicht so schnell los. Ich habe lieber herausfordernde Fragen und nicht jene über die Vergangenheit, sondern darüber, was nun in der Gegenwart stattfindet. Das ist die Dimension, in der wir leben.
Samuel Koch, 1987 geboren, erlitt 2010 bei der TV-Show „Wetten, dass..?“ einen schweren Unfall, und ist seither querschnittgelähmt. Er arbeitet seit 2014 als Schauspieler. Der Film „Draußen in meinem Kopf“ wird derzeit produziert. Kochs Autobiographie „Zwei Leben“ erschien 2012, sein Buch „Rolle vorwärts – Das Leben geht weiter“ 2015.
Eva Bachinger arbeitet als freie Journalistin und Sachbuchautorin, zuletzt erschien ihr Buch „Kind auf Bestellung“ (Deuticke Verlag, 2015).
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