Konnten Sie den "Judenstern" nicht zudecken?
Lucia Heilmann, 88, besucht fast jede Woche eine Schule. Im heurigen Gedenkjahr ist sie besonders gefragt. LehrerInnen können über den Verein erinnern.at Schülerinnen und Schüler mit Shoa-Überlebenden in Kontakt bringen.
Fotos und Text: Gunnar Landsgesell
Als die Familie Heilman von den Nationalsozialisten aus ihrer Wohnung in Wien vertrieben wurde, hatte die achtjährige Lucia eine Idee. Sie werde einen Hammer holen und damit in die Wände ihres Kinderzimmers schlagen. Sie wollte dafür sorgen, dass die Nachfolger nicht so ein schönes Zimmer bekämen. Protest und Wut eines kleinen Kindes, das nicht verstand, wie gefährlich das war. „Meine Mutter sagte dann, wenn du so etwas machst, dann wird man uns bestrafen und einsperren. Und das hatte damals jeder gewusst: Einsperren bedeutet Abtransport in ein Todeslager.“ Die Schülerinnen und Schüler des Bundesoberstufenrealgymnasiums in der Landstraßer Hauptstrasse 70 lauschen gebannt. Lucia Heilman ist als Shoa-Überlebende in einer 7. Klasse eingeladen, um von Erfahrungen zu erzählen, wie sie lebendig und detailhaft in keinem Geschichtsbuch zu vermitteln wären. Jede Woche sei sie an einer anderen Schule, auch an Berufs- und Hauptschulen unterwegs, sagt Heilman. Besonders im heurigen Gedenkjahr sei die Nachfrage nach ZeitzeugInnen groß.
88 bedeutet „Heil Hitler“
Eine Klasse aufgeweckter Jugendlicher, viele davon mit migrantischen Wurzeln, erwartet sie. Die Sessel sind im Kreis aufgestellt. Die Tafel ist voll mit mathematischen Formeln, darüber steht „Binominalverteilung“. Auf einem Flipchart ist die Frage „Was ist Wohlstand?“ zu lesen, rundherum gruppiert die Antworten: Menschenrechte, gutes Internet, Vier-Tage-Woche. Doch in dieser Doppelstunde wird aus einer Zeit berichtet, in der Menschenrechte nicht mehr zählten.
Lucia Heilman, 1929 in Wien geboren, versteht es immer wieder, Linien in die Gegenwart zu ziehen: „Ich bin 88 Jahre alt, aber 88 ist ein Zeichen der Nationalsozialisten. Der achte Buchstabe im Alphabet steht für H und 88 bedeutet Heil Hitler.“ Und fügt ironisch hinzu: „Deswegen sage ich lieber, ich bin 89 Jahre alt.“ Sie erzählt den Jugendlichen von der Verdrängung von Juden und Jüdinnen aus dem öffentlichen Leben, von Demütigungen, Enteignungen, vom Abtransport der Menschen in die Konzentrationslager. Die Behauptung, dass die Bevölkerung in Österreich ja von nichts gewusst hätte, beschäftigt die zierliche Frau, die ihre Gedanken sehr systematisch und überlegt formuliert, bis heute. Da die Juden am helllichten Tag vor den Augen anderer auf LKWs verladen wurden, könne niemand sagen, von nichts gewusst zu haben. „Es war für alle zu sehen“, bekräftigt Heilman ihre Worte.
Aber die Haltung, nichts gewusst und gesehen zu haben, lebe bis heute fort, etwa bei der Affäre um die Liederbücher von Burschenschaften. „Wie ist das möglich?“, fragt sie in die Runde. Heilman versteht es, auf die Jugendlichen einzugehen, sie nicht zu überfordern. Sie erzählt in abgeschlossenen Episoden, immer mit Blick auf ihre Zuhörer, ob diese ihr folgen können. Man merkt ihr die gewonnen Erfahrungen an. „Früher habe ich nicht gewusst, was und wie ich erzählen soll.“, sagt sie im Gespräch.
Heute ist es ihr wichtig, dass die Schüler und Schülerinnen gut vorbereitet sind, wenn sie in eine Klasse kommt, und dass sie Fragen stellen können.
Viele Fragen aufgeworfen
Keine leichte Situation, auch für die Jugendlichen. Die Hemmschwelle, etwas Unpassendes zu fragen, ist sicherlich groß. Doch in dieser 7. Klasse werfen Heilmans Erinnerungen viele Fragen auf. Sie erzählt, dass jüdische Menschen vor den Deportationen gezwungen wurden, sichtbar einen „Judenstern“ an der Kleidung anzubringen. Dabei führt sie ihre Hand an die linke Seite ihres Oberkörpers. Und sie erzählt, wie sie mit ihrer Mutter am Magistrat war, weil Jüdinnen gezwungen wurden, als zweiten Vornamen „Sara“ eintragen zu lassen. Und dass sie für diese Namensänderung bezahlen mussten. Eine Schülerin möchte wissen, was passierte, wenn man die Namensänderung verweigerte. Ein anderer Schüler fragt, warum sie den „Judenstern“ nicht zugedeckt habe. Momente, in denen spürbar wird, wie sehr man sich aus heutigem Selbstverständnis den Verhältnissen dieser Zeit annähern muss. Heilman erklärt, dass diese Verordnungen Gesetze waren, und wer diese nicht befolgte, musste mit schlimmen Folgen rechnen. „Es war eine Zeit“, sagt die ehemalige Ärztin, „in der Widerworte nicht üblich waren, nicht so wie heute, wo man seine Meinung und seinen Widerspruch kundtun kann und auch soll.“ Viele der Fragen der SchülerInnen lassen vermuten, dass sie durch ihre Geschichtslehrerin Julia Hofer gut auf diese Stunde vorbereitet wurden. Sie erkundigen sich, was passierte, wenn man „Halbjude“ war, oder ob Heilman, als sie nach 1945 wieder am Schulunterricht teilnehmen konnte, Antisemitismus erfahren hat. Als die Pausenglocke läutet, wird kurz gelüftet, doch die Jugendlichen bleiben weiterhin gespannt im Gespräch.
Gute Vorbereitung ist wichtig
Julia Hofer, die auch Mathematik unterrichtet, ist es ein Anliegen, Unterricht möglichst lebendig zu gestalten. Auf die Idee, eine Zeitzeugin einzuladen, kam sie über einen Bekannten, der als Geschichtestudent für den vom Bildungsministerium getragenen Verein erinnern.at immer wieder ZeitzeugInnen an Schulen begleitet. Die Initiative gibt es seit den Achtziger Jahren.
Hofer hält das Aufeinandertreffen von Schülerinnen und Schülern mit unmittelbar Betroffenen für eminent wichtig, „weil die so gelernten Inhalte Authentizität erhalten und ein realer Einblick in die damaligen Auswirkungen des NS-Regimes eröffnet werden kann.“ Also hatte sie die SchülerInnen gefragt, ob sie das möchten, diese bekundeten glaubhaft ihr Interesse.
Die Vorbereitung der Klassen auf den Besuch von Shoa-Überlebenden ist grundsätzlich sehr wichtig, wie auch Lucia Heilman bestätigt. Jede Nacht nach einem Schulbesuch leide sie an Schlafstörungen und Ängsten, auch wenn sie diese Situation nun schon kenne. „Ich habe dann ein Buch neben dem Bett liegen und weiß, dass das vorübergeht“, so Heilman.
Julia Hofer besuchte im Vorfeld mit der Klasse das Jüdische Museum und zeigte im Unterricht ein 25-minütiges Videointerview mit Frau Heilman, so dass die Jugendlichen schon ein Gefühl dafür bekommen, wer die Klasse besuchen wird. „Wir haben gemeinsam verschiedene Fragen überlegt und versucht zu unterscheiden, dass es dabei einerseits um die persönlichen Erfahrungen von Frau Heilman geht, andererseits um allgemeine Fragen zum Nationalsozialismus. Wir haben aber auch geklärt, dass es einige Fragen geben wird, die sie nicht beantworten kann. Ein Schüler meinte, als Frau Heilman im Video erwähnt, dass sie nach so einem Besuch Schlafstörungen hat: Total arg, dass sie trotzdem zu uns kommt. Die Empathie war deutlich zu spüren.“
Lucia Heilman selbst überlebte den Holocaust dank eines mutigen Mannes, der sie in einer Werkstatt versteckte. Statt in der Schule lernte Lucia, Metallplatten zu einer Vase zu verlöten. Nach dem Ende des Hitler-Faschismus sollte ihr Lebensretter als einer der „Gerechten unter den Völkern“ in der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem geehrt werden. Doch dieser wollte die Auszeichnung erst nach seiner Pensionierung entgegennehmen. Er hatte Sorge, dass er Kunden verlieren würde, sollte sein Engagement publik werden. Für die Jugendlichen aus dem BORG 1030 ist nach der Stunde Unterrichtsschluss. Zeit, das Erfahrene zu verarbeiten.
Nachdruck mit freundlicher Genehmigung der Wiener Zeitung.
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