Wir wollen Signale setzen
Huseyn Iskhanov und seine Tochter Kheda leben seit 13 Jahren in Österreich. Aus Tschetschenien geflohen, wollen sie die vom Krieg gebeutelte Community weiterbringen. So wie Kheda, die Fußball spielte und nun studiert, sollen es auch andere tschetschenische Mädchen machen.
Text: Evelyn Steinthaler, Fotos: Karin Wasner.
"Als wir 2004 hier ankamen, lebten wir in einem Vakuum. Uns fehlte die Sprache, um mit unseren Nachbarn in Kontakt zu treten. Und dass unsere Töchter ohne die große Familie aufwuchsen, ohne Großeltern, ohne Tanten und Onkel, die wir in Tschetschenien zurücklassen mussten, war sehr hart für uns.“ So erzählt Huseyn Iskhanov darüber, was es bedeutet, sein Land zu verlassen. Die Flucht, die die Iskhanovs nach Österreich geführt hatte, dauerte Wochen. Erst wurde die Familie in Eberndorf in Kärnten untergebracht, wo die heute 20-jährige Kheda mit zwei ihrer Schwestern zur Schule ging. Nachdem der Flüchtlingsstatus der Familie geklärt war und sie die notwendigen Papiere erhielten, zog man nach Wien um.
„Wir sind Stadtmenschen, wir sind aus Grosny. In einer großen Stadt zu leben, fällt uns leichter. Hier in Wien kann man auch mehr tun als am Land“, lächelt Huseyn Iskhanov. Mit dem „mehr tun“ spricht er sein Engagement für die tschetschenische Gemeinschaft in Österreich an, das schon bald nach seinseiner Ankunft im Westen begann.
Kulturzentrum fehlt
Allein in Wien leben 16.000 Tschetschenen und Tschetscheninnen, in ganz Österreich sind es rund 30.000. Ein Kulturzentrum gibt es in der Bundeshauptstadt dennoch nicht. Eigentlich schade, findet Iskhanov, er vermisst eine Initiative, die die entwurzelten Menschen an einem Ort zusammenführen kann. Um sich zu treffen, sich auszutauschen, sich kennenzulernen. Aber auch, meint er, „um die jungen Männer von der Straße zu holen. Damit sie nicht immer auf blöde Gedanken kommen.“
Um jene Tschetschenen abzuholen, die auf die schiefe Bahn geraten, gibt es bereits einige Initiativen. Gerade Kampfsportarten scheinen große Wirkung auf die jungen Männer zu zeigen. Disziplin und eine gewisse Form körperlicher Härte treffen sich vielleicht auch mit einem tradierten Selbstverständnis von Männlichkeit. Frust und Traumata – sie lassen sich mit Kampfsport vielleicht kanalisieren.
Herr Iskhanov ist mit seiner Idee vom tschetschenischen Kulturzentrum zwar bis ins Wiener Rathaus vorgedrungen, die benötigte finanzielle Unterstützung blieb bislang aber aus. Dabei würden alle profitieren, ist er überzeugt. „Es geht nicht nur darum, Leute von der Straße zu holen, man könnte auch besser die Kinder unterstützen, ihnen Sprachnachhilfe geben. Viele Kinder haben keine Möglichkeit, die tschetschenische Muttersprache richtig zu lernen.“
Role models für die Kinder
Schon jetzt ist der rührige Mann vielerorts aktiv. Er betreut Tschetschenen, die mit dem Gesetz in Konflikt geraten sind und kümmert sich, seit er durch den ORF-Redakteur Zoran Dobic mit der Justizanstalt Gerasdorf in Kontakt kam, auch um junge Tschetschenen, die dort einsitzen. Das sind junge Männer, denen das positive männliche Vorbild fehlt, wie Iskhanov meint. Die Gesellschaft sei insgesamt zerrissen. Zwei Kriege in den vergangenen 25 Jahren hätten eine vaterlose und gleichermaßen patriarchale Gesellschaft hervorgebracht, die sich mit der Verarbeitung ihrer Traumata und ihrer Entwicklung schwer tue. Schwäche zu zeigen, das sei für Tschetschenen nicht einfach, ja gesellschaftlich geradezu verpönt. Das schlägt sich dann immer wieder auch in der Außenwahrnehmung im Westen nieder.
Der 61-Jährige möchte jedoch Zeichen setzen, und denkt dabei etwa an seine eigene Familie. Seine Tochter Kheda spielte während ihrer Schulzeit Fußball und lernte schwimmen. Heute studiert sie Wirtschaftsrecht an der WU Wien. Für tschetschenische Mädchen sind das eher untypische sportliche Engagements, sie gehen auf den Vater zurück. Er hat Kheda und ihre fünf Schwestern stets dazu angehalten, Sport zu betreiben. Auch wenn sie heute selbst keine Freundin öffentlicher Bäder ist, ist Kheda ihrem Vater dankbar: „Ich weiß ja nie, ob ich nicht mal wegen einem Unglücksfall schwimmen können muss.“ Wenn sie vom Fußball erzählt, erwähnt sie lächelnd ihre zahlreichen Pokale.
Aber auch akademische Bildung sei unter TschetschenInnen in Österreich nicht sehr verbreitet. Seit 2016 gibt es einen StudentInnenverein, dem auch Kehda angehört. An der Uni habe sie von dem Verein erfahren: „Ich hatte die Infos dann auch gleich an Freunde weitergeben und beim ersten Treffen vielleicht 10 Leute erwartet. Es sind aber weit über 30 Leute gekommen, viele davon kannte ich gar nicht!“ Dieses Kennenlernen und Wissen, dass sie nicht die einzigen tschetschenischen Studierende an der Uni sind, ist ihr wichtig. „Wir stehen noch am Anfang, aber wir versuchen uns regelmäßig zu treffen und Ziele zu diskutieren. Was wollen wir überhaupt erreichen? Wir besuchen zum Beispiel Schulen und berichten dort tschetschenischen Kindern von den Bildungsmöglichkeiten in Österreich. Und erzählen über uns und unsere eigenen Bildungskarrieren, so dass die Kinder jemanden aus der eigenen Kultur kennenlernen, der oder die studiert.“ Über 80 Studierende haben sich im Verein mittlerweile eingefunden.
Vom Krieg geprägt
Tschetschenien, etwas kleiner als die Steiermark und im Nordkaukasus gelegen, blickt auf eine leidvolle Geschichte zurück. Als die Sowjetunion sich auflöste, erklärte der damalige tschetschenische Präsident Dschochar Dudajew am 1. November 1991 die Unabhängigkeit der autonomen Republik. Doch schon bald verstärkte Russland seine Truppen und unterstützte Dudajews Gegner. Im Dezember 1994 gab Boris Jelzin den Befehl zum Einmarsch in die Kaukasus-Republik. In diesem ersten russisch-tschetschenischen Krieg kämpfte auch Huseyn Iskhanov. Er, der in der Sowjetarmee in den Siebzigern in der DDR stationiert war, gehörte zum Generalstab der tschetschenischen Armee. 1996 wurde Iskhanov erstmals von den Russen festgenommen, kam im Zuge eines Gefangenenaustausches jedoch wieder frei. Nach dem Krieg war er Abgeordneter im Parlament in Grosny. Nachdem 1999 der zweite russisch-tschetschenische Krieg begann, wurde er neuerlich verhaftet und auch gefoltert. Das Wissen über die Ereignisse von damals ist in Österreich gering, und der ehemalige Politiker ist davon überzeugt, dass das ein Grundproblem für die öffentliche Wahrnehmung der TschetschenInnen in Österreich sei. Statt Verständnis ortet er vor allem vorgefasste Meinungen. „Wir sind heute so etwas wie eine Marke, so wie Coca-Cola“, sagt Ishanov, „bei uns glaubt jeder zu wissen, wer oder was wir sind. Auch die FPÖ tut das ihre dazu, um uns abzustempeln. Auch, dass Innenminister Sobotka meint, es gäbe Frieden in Tschetschenien, ist nicht besonders hilfreich.“ Wichtiger wäre, dass die fortwährende Verletzung der Menschenrechte in Tschetschenien anerkannt würde. Seit der Ermordung der Journalistin Anna Politkowskaja im Jahr 2006, die darüber berichtet hatte, hat sich die Lage nicht verbessert. Tausende Morde unter dem Putin-Getreuen, Präsident Ramsan Kadyrow, sowie Gewalt gegen Homosexuelle, zeichnen ein anderes Bild als das des österreichischen Innenministers.
Geschwiegen wird bis heute auch über die Vertreibung tschetschenischer Bevölkerungsteile unter Stalin, der eine halbe Million Menschen nach Kasachstan deportieren ließ. Als der Filmemacher Ruslan Kokanajew 2014 den Dokumentarfilm „Vergessen auf Befehl“ über diese Deportationen drehte, verbot der Kreml kurzerhand die öffentliche Vorführung des Films. Die Die Begründung: Geschichtsfälschung. Iskhanov, selbst im Exil auf die Welt gekommen, bezeichnet die Deportation als „Volkstrauma, stärker noch als die späteren Kriege. Wir tragen das alle noch immer in uns.“
Als die Eltern nach Tschetschenien zurückkehren durften, war Huseyn gerade ein Jahr alt. Die frühere Wohnung in Grosny gehörte nun Russen. Sich ein neues Leben in der Heimat aufzubauen, war für die Heimgekehrten dementsprechend hart.
Heute kann man in Tschetschenien nicht von Demokratie sprechen. Wer sich dazu hinreißen lässt, Kadyrow oder Putin öffentlich zu kritisieren, werde im Fernsehen und über die sozialen Netzwerke gedemütigt. „Das zerstört gerade in einer Gesellschaft, die so stark auf die Einhaltung von Würde aufgebaut ist, ganze Existenzen“, erklärt Kheda. Und ihr Vater fügt hinzu: „Die Russen haben sich heute weitgehend aus Tschetschenien zurückgezogen. Aber sie lassen Putins Gefolgsmann Kadyrow die schmutzige Arbeit machen. Ein Ende ist nicht in Sicht.“
Mut zur Erneuerung
Weder Vater noch Tochter scheuen die öffentliche Auseinandersetzung. Meist wird diese Präsenz und das Engagement der Familie auch von der Community gutgeheißen, nur manchmal wird kritisiert, dass Kheda Iskhanova kein Kopftuch trägt und etwa gemeinsam mit ihren Schwestern in Sendungen wie „Heimat, fremde Heimat“ öffentlich zu sehen ist. Sie verhalte sich nicht so, wie es von einer tschetschenischen Frau erwartet würde. Aber, so entgegnet sie: „Ich kann nicht still sein, wenn es um Ungerechtigkeiten geht. Und ich will auch zeigen, dass ich ohne Kopftuch eine gläubige Muslima sein kann, die viele Möglichkeiten hat, ohne die Traditionen zu vergessen.“
Versuche der Iskhanovs, Landsleute vor die Kamera zu holen, scheitern meist: „Kaum jemand will öffentlich wie wir seine Meinung äußern, gerade auch, wenn es um das Kadyrow geht“, erzählt die Studentin. Natürlich hätten die Leute auch Angst um ihre Verwandten in Tschetschenien. „Sie können aber nicht alle Familien bedrohen, weil wir hier im Westen offen Kritik üben“ sagt Kheda Ishanova, „wenn wir alle aussprechen was wir denken, würden wir unseren Landsleuten mehr helfen, als dem Druck nachzugeben. Ich finde, wir sollten alle sagen was wir denken. So können wir ihnen weit mehr helfen. Kadyrow kann nicht Millionen von Menschen foltern. Das geht einfach nicht. Es muss jemand sagen wie es ist. Es trifft uns doch alle.“
Evelyn Steinthaler ist freie Autorin, Übersetzerin, Performerin und Jugendarbeiterin. Sie lebt und arbeitet in Wien. Zuletzt, Übersetzung von „Austria – A Soldier‘s Guide“ erschienen bei Czernin 2017. Performance im Film „The Devil Opens a Night School to Teach the Secrets of Success and Failure“ von Ines Doujak und John Barker, 2015.
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