Lebensmittel, die man nicht essen kann
POPULÄR GESEHEN. Wer dauernd hungert, wird jenen folgen, die Brot versprechen. Eine Kolumne von Martin Schenk, Illustration: Petja Dimitrova
Es gibt etwas in unserem Leben, das einfach wichtig ist. Bestimmte Bedürfnisse, die gestillt werden müssen. Dazu gehören auch Lebensmittel, die man nicht essen kann, aber trotzdem zum Leben braucht. Fünf Mängel zählt Psychologe Abraham Maslow auf, die uns bei Nichtbefriedigung empfänglich für Hetze aller Art machen: Hunger & Durst, Gewalt & Arbeitslosigkeit, Isolation & Einsamkeit, fehlende Achtung & Wertschätzung, Brachliegen der eigenen Potenziale. „Wer dauernd hungert, wird jenen folgen, die Brot versprechen. Jene, die Sicherheit garantieren, werden bei Verängstigten und Traumatisierten einen Zuhörer finden“, analysiert dazu der Netzwerkforscher Harald Katzmair. „Jene, die Teilhabe anbieten, werden bei einsamen Menschen Resonanz erzeugen. Jene, die sagen: So wie Du bist, bist du ein wertvoller Mensch, werden bei denen, die nie im Licht der Anerkennung stehen, Anklang finden.“ Wer diese Grundbedürfnisse nicht mehr auf dem Radar hat, wird auch nichts ausrichten gegen Ideologien der sozialen Ausgrenzung. Vor allem das Bedürfnis nach Wertschätzung, Würde und Integrität von all jenen, die sich nicht täglich im Lichte des Erfolgs sonnen können, ist aus dem Blick geraten. Lehrlinge beispielsweise werden meist auf ihre Funktionalität für den Arbeitsmarkt angesprochen. „Der Mensch außerhalb der Arbeit, der politische Mensch, der Freizeit-, der Beziehungs- und Familienmensch ist den Verantwortlichen aus Politik und Wirtschaft offensichtlich völlig egal“, analysiert Jugendforscher Heinzelmaier. Eine weitere Beobachtung liefert der französische Soziologe Didier Eribon. Die Fabriksarbeiter seiner Verwandtschaft wählen alle die Rechtsextremen. Eribon schreibt, „dass man die Zustimmung zum Front National zumindest teilweise als eine Art politische Notwehr der unteren Schichten interpretieren muss. Sie versuchen, ihre kollektive Identität zu verteidigen, oder jedenfalls eine Würde, die seit je mit Füßen getreten worden ist und nun sogar von denen missachtet wurde, die sie zuvor repräsentiert und verteidigt hatten.“ Aus Arbeitern und Arbeiterinnen wurden „sozial Schwache“, aus Proletariern „bildungsferne Schichten“. Aus AkteurInnen, die Rechte einforderten, wurde ein Sammelsurium von Opfern und Hilfsbedürftigen gemacht. Die einen verwandeln sie in Objekte sozialmoralischer Pädagogik, die nichts können, die anderen betrachten sie als Objekte erobernder Fürsorge, als Opfer, die alles brauchen. Aber nie als Handelnde. Es gibt eben Lebensmittel, die man nicht essen kann, aber trotzdem zum Leben braucht. Wer nicht im Licht steht, wird jenen vertrauen, die anbieten, was in ihrem Alltag verloren zu gehen droht: Achtung und Würde.
Martin Schenk ist Sozialexperte der Diakonie Österreich.
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