Ein Gedankenanstoß
Die Gesellschaft kann sich vor Hassern und Hetzern schützen, indem sie Musliminnen und Muslime als Partner im Einsatz für Menschenrechte und sozialen Zusammenhalt wahrnimmt. Kommentar: Carla Amina Baghajati
Jedes Wort löst Assoziationen aus, oft auch Emotionen. Wer in Europa „Scharia“ hört und nicht selbst Muslim/in ist, wird wohl Bilder archaisch anmutender Körperstrafen der Verbrecherbande IS im Kopf haben und im Bauch das Gefühl „passt nicht hierher, bedroht mich“. Denn ist das nicht dieses starre islamische Recht, der Widerspruch zu säkularer Rechtsstaatlichkeit schlechthin? Ganz andere Gedanken tun sich bei gläubigen Muslimen auf. Für sie signalisiert „Scharia“ eine gottgefällige Lebensführung. Das Wort verknüpft sich mit positiven Aspekten wie Sicherheit, Gerechtigkeit und persönlicher Verantwortung für das Allgemeinwohl. Somit ist „Scharia“ wohl der Begriff, bei dem in Islamdebatten am meisten aneinander vorbei geredet wird. Als Ursache für Ängste und Misstrauen liegt hier ein Nährboden für populistische Feindbilder. Umso dringender ist eine Begriffsdefinition.
Ins Deutsche übersetzt bedeutet das arabische Wort šarī῾a „Weg zur Wasserstelle“. In der Symbolik des Wasserschöpfens liegt ein Bezug zu den religiösen Quellen Koran und Sunna (vorbildliche Lebensweise des Propheten Muhammad). Der ständig aufs Neue zu beschreitende Weg zeigt die Notwendigkeit auf, diese Quellen immer wieder neu zu befragen. Mit sich verändernden Lebensumständen durch sich wandelnde Zeit, lokale Gegebenheiten und gesellschaftliche Rahmenbedingungen ändern sich Fragestellungen. Die Scharia steht somit schon vom Wort her für einen dynamischen Anspruch und nicht für ein unveränderlich festgeschriebenes Gesetz. Ohne Zweifel geht es um „religiöse Rechtleitung“. Gottes Offenbarung – für Muslime als erste Quelle der Koran – wird aber von Menschen gelesen und interpretiert. Das ist also eine Einladung zu Mündigkeit und Ansage gegen blinde Autoritätshörigkeit. „Wollt ihr nicht nachdenken“, richtet sich der Koran an die Menschen.
Gibt kein Buch „Die Scharia“
Demzufolge gibt es auch kein mit „Die Scharia“ betiteltes Buch universalen Anspruchs. Der Auslegungsprozess kann nie abgeschlossen sein. Praktische Fragen zu den gottesdienstlichen Handlungen standen im Vordergrund. Literatur zur rituellen Reinheit oder dem Gebetsablauf ist somit sehr viel umfangreicher als zu politischen Fragen. Schon im frühen Islam hatte sich die Anschauung durchgesetzt, jeder Regierung sei Loyalität geschuldet, die das Praktizieren des Islams ermögliche. Muslime in Europa haben sich in zahlreichen offiziellen Stellungnahmen klar zur demokratischen Rechtsstaatlichkeit und der säkularen Gewaltenteilung bekannt.
Gleichzeitig ist im innermuslimischen Diskurs viel in Bewegung, weil gegen Missbrauch des Begriffs Scharia angegangen werden muss. Extremisten suchen über „Scharia“ ihre menschenverachtenden und gewaltverherrlichenden Positionen zu legitimieren und sie als „göttlichen Willen“ hinzustellen. Islamhasser schüren Ängste, indem sie diese Verdrehungen als „den Islam“ präsentieren und Terroristen damit noch Recht geben. Dieser Herausforderung muss mit Bildung und theologischem Weiterdenken begegnet werden. Insbesondere gilt es einem wortwörtlichen Quellenverständnis entgegenzutreten, das den inhaltlichen größeren Zusammenhang ignoriert. Dazu hat u. a. eine Wiederbelebung des bereits vor Jahrhunderten entwickelten Konzepts der unverrückbaren Prinzipien der Scharia (maqasid asch-scharia) stattgefunden: Schutz der Religionsfreiheit, des Lebens und der Menschenwürde, des Besitzes, der Familie und der Vernunft. So können Auslegungen dahingehend überprüft werden, ob sie auch dem Geist des Islams entsprechen. Die Gesellschaft kann sich vor Hassern und Hetzern schützen, indem sie diesen Entwicklungen mehr Aufmerksamkeit schenkt und Musliminnen und Muslime als Partner im Einsatz für Menschenrechte und für sozialen Zusammenhalt wahrnimmt.
ZUR PERSON: Carla Amina Baghajati ist Medienreferentin der Islamischen Glaubensgemeinschaft (IGGIÖ) und Mitgründerin der „Initiative muslimischer ÖsterreicherInnen“.
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