Notstand herrscht anderswo
Margaretha Maleh, seit 2015 Präsidentin von „Ärzte ohne Grenzen Österreich“, übt scharfe Kritik an Österreichs Flüchtlingspolitik. Und sie spricht von der zunehmenden Missachtung von Menschenrechten und Völkerrecht in kriegerischen Auseinandersetzungen. Interview und Fotos: Eva Maria Bachinger
Ärzte ohne Grenzen hat die Entscheidung getroffen, keine EU-Gelder mehr zu anzunehmen. Warum?
Es musste klar aufgezeigt werden, was der Deal der Europäischen Union mit der Türkei wirklich bedeutet. Es geht ja nicht nur darum, dass die Türkei bis 2017 von der EU drei Milliarden Euro zur Unterstützung für die Versorgung der Flüchtlinge bekommt. Wir gönnen der Türkei die Milliarden, sie brauchen sie auch, denn die Türkei beherbergt drei Millionen Flüchtlinge. Es geht darum, dass damit eine politische Instrumentalisierung verbunden ist. Der Deal ist, dass die Türkei die Grenzen dicht macht und dafür Flüchtlinge aus Griechenland zurück nimmt. Das ist Menschenhandel. Wenn wir das Geld weiterhin nehmen, sind wir Mitspieler und nehmen in Kauf, dass die Grenzen zu sind und Menschen in Syrien eingeschlossen werden und sterben. Flüchtlinge sollen um jeden Preis von Europa ferngehalten werden, obwohl sie ein Recht haben, außer Landes zu kommen. Das widerspricht der Genfer Konvention. Das war für uns eine Grundsatzentscheidung, nicht zum Trotz oder aus Widerstand. Dieser Deal widerspricht auch unseren Grundprinzipien der Neutralität, Unabhängigkeit und Unparteilichkeit. Humanitäre Hilfe hat den besonderen Auftrag, bedarfsorientiert zu helfen und ist nicht politisch motiviert.
Besteht die Gefahr, dass deswegen Projekte nicht mehr finanziert werden können?
Es wird kein einziges Projekt gekürzt oder geschlossen. Wir haben ausreichend finanzielle Ressourcen, um so etwas durchtragen zu können.
Man könnte argumentieren, dass die Flüchtlinge aus Griechenland auch in der Türkei um Asyl ansuchen könnten. Wenn Menschen schon in Griechenland sind, warum müssen sie zurück in die Türkei? Die Türkei ist kein EU-Land, da gilt das Dublin-Abkommen nicht. Zudem ist die Türkei auch nicht unbedingt ein sicheres Land.
In Österreich geistern die Wörter „Obergrenze“ sowie „Notverordnung“ durch die politischen Debatten. Sehen Sie die Konvention hier auch verletzt?
Ja, auf alle Fälle, weil das Menschenrecht einen Asylantrag stellen zu dürfen, verletzt wird. Österreich hat die Pflicht, Menschen zu helfen, die kommen. Sie sind in Not, sonst würden sie ihre Heimat nicht verlassen, auch wenn es sogenannte wirtschaftliche Gründe sind. Das ist die Realität. Wenn man weiß, wie prekär derzeit die Situation in den Flüchtlingslagern im Sudan, in Tansania, in Äthiopien, in Kenia ist, dann ist es verständlich, dass sich die Menschen auf den Weg machen. Wir sehen die überfüllten Lager in Jordanien, im Irak, wir sind ja vor Ort. Es herrschen dort für uns unvorstellbare Bedingungen. Schlepper betreiben ihr schmutziges Geschäft, Missbrauch, Ausbeutung, Prostitution nehmen in diesem Kontext massiv zu. Die ärmeren Länder beherbergen Millionen von Flüchtlingen, obwohl sie selber nicht viel haben. Und wir reicheren Länder wollen Flüchtlinge nicht aufnehmen und ihnen nicht einmal das Recht einen Asylantrag zu stellen, Sicherheit und eine menschenwürdige Versorgung geben. Nach Obergrenzen zu rufen und den Notstand auszurufen, das ist unglaublich. Notstand herrscht woanders und nicht in Österreich.
Mit Ihnen gibt es erstmals eine Psychotherapeutin an der Spitze von Ärzte ohne Grenzen Österreich. Wie sehen Sie die psychosoziale Versorgung von Flüchtlingen?
Völlig unzureichend. Dabei wäre das so wesentlich und würde viele Langzeitfolgen vermeiden. Wenn man sich vorstellt, dass ein Mensch alles, was ihm wichtig ist, verlässt, seine Freunde, seine Familie, sein Hab und Gut, und ins absolute Ungewisse aufbricht, das Land nicht kennt, die Sprache, die Kultur und noch dazu weiß, dass er dort nicht willkommen ist, ist es doch nachvollziehbar, dass das Angst und Stress verursacht. Wenn dann noch zusätzlich etwas passiert, wie, dass die Menschen im Boot merken, dass es untergeht, sie in letzter Minute gerettet werden und andere ertrinken sehen oder wenn sie krank werden und keine Versorgung haben oder schlechte Nachrichten von Zuhause hören, kann das zum Zusammenbruch führen. Viele Flüchtlinge sind dadurch nicht mehr in der Lage, den Alltag zu bewältigen. Ich habe in Flüchtlingslagern oft be- merkt, dass die Frauen nach einer gewissen Zeit so erschöpft sind, dass sie nicht mehr ihre Kinder versorgen können. Es stellt sich eine Lethargie ein, viele leiden an Depressionen, Angstzuständen, Panikattacken. Die Menschen haben auch keine Kraft mehr in stressigen Situationen angemessen zu reagieren; familiäre Konflikte nehmen zu. Der permanente Stress führt häufig zu Gewalt. Das ist ein Teufelskreis, deswegen ist psychosoziale Unterstützung so wichtig.
Wie sollte diese Hilfe gestaltet sein?
Gefragt ist emotionale und soziale Unterstützung. Das können individuelle Gespräche sein, wo sich die Betroffenen ausreden und ausweinen können, aber auch Spielgruppen, Frauengruppen, Kindergärten zur Stützung der Gemeinschaft. Psychosoziale Unterstützung für Kinder und Jugendliche ist besonders wichtig, viele wurden verletzt oder haben Gewalt und Tod erlebt. Sie haben von ihrer Zukunft geträumt, wollten Lehrerin oder Arzt werden, und was bleibt ihnen jetzt? Das sind ja auch keine kurzfristigen, schnell vorübergehenden Situationen, da geht es um Jahre.
Sie haben kritisiert, dass in Lagern wie Traiskirchen Massenküchen die Flüchtlinge versorgen, anstatt den Menschen die Möglichkeit zu geben, selber zu kochen.
Ja, denn es ist so wichtig, dass es eine minimale Tagesstruktur gibt, die sie selbst mitgestalten. Strukturen geben Sicherheit und Stabilität. Solche Details würden auch bewirken, dass man einige Therapiestunden weniger benötigt. Sehr unmenschlich empfinde ich das Vorenthalten von Informationen, das ist ein Machtinstrument. Als tausende Flüchtlinge aus Slowenien an der österreichische Grenze warteten, habe ich junge Syrer gefragt, ob sie wissen, was nun auf sie zukommt. Sie wussten nur, dass sie in einer Reihe stehen und warten sollen. Vorne sind zwei Männer gestanden und haben die Namen aufgeschrieben. Warum kann man diesen Menschen nicht sagen, dass ihre Daten aufgenommen werden, dass sie dann ein Essen bekommen und dort drüben schlafen können? Wenn man keine Informationen hat, ist das ein Gefühl des Ausgeliefertseins, der Ohnmacht. Das verstärkt den Stress zusätzlich und fördert die Angst. Dann verwundert es, wenn sie die Geduld verlieren, an den Zäunen rütteln und aggressiv werden.
Hat es Änderungen in Traiskirchen nach ihrem kritischen Bericht über die Lage dort gegeben?
Das Rote Kreuz wurde beauftragt, ein zusätzliches Feldspital aufzustellen. Wir haben den Bericht natürlich zuerst mit dem Innenministerium besprochen und auch gute Rückmeldungen erhalten. Als wir ihn dann veröffentlicht haben, hieß es, alles falsch. Es ging uns aber nur darum, Empfehlungen abzugeben; uns ging es nicht um einen politischen Kampf, und auch nicht darum, ein Hotel Sacher hinzustellen. Es geht um absolute Mindeststandards.
Noteinsätze werden für Helfer gefährlicher, weil Angriffe auf medizinische, humanitäre Einrichtungen in Kriegsgebieten in letzter Zeit stark zugenommen haben.
Ja, das hat es zwar immer schon gegeben, aber nicht in dem Ausmaß und mit dieser Rücksichtslosigkeit, wie wir das nun beobachten. Das internationale Völkerrecht, das den Schutz von Gesundheitseinrichtungen garantiert, scheint keine Gültigkeit mehr zu haben. Teilweise hängt die Zunahme damit zusammen, dass vermehrt radikalisierte Gruppen involviert sind. Sie fühlen sich an internationale Verträge nicht gebunden. Das trifft aber genauso auf staatliche Akteure zu, die gezielt Luftangriffe auf Krankenhäuser fliegen. Wenn wir einen Einsatz planen, sind von vornherein Verhandlungen mit den politisch Verantwortlichen vorgesehen. Wir betreiben medizinische Einrichtungen und verlangen das Zugeständnis, dass wir nicht angegriffen werden, wie es das Völkerrecht vorsieht.
Wo wird Ärzte ohne Grenzen besonders oft angegriffen?
In Afghanistan, im Jemen. In Syrien ist es derzeit besonders schwierig, fast täglich werden Gesundheitseinrichtungen bombardiert. Von staatlicher Seite wird betont, wir haben euch nicht eingeladen hier zu sein, also müssen wir euch auch nicht schützen. Das ist natürlich eine unverhohlene Ignoranz des internationalen Rechts.
Ein Vorwurf lautet immer wieder, dass auch Terroristen behandelt werden.
Wir behandeln Menschen, die verletzt wurden. Wir unterscheiden nicht, ob es ein Rebell ist oder ein Soldat oder eine Zivilistin. Jeder Mensch hat das Recht auf eine medizinische Behandlung, das ist ein verbrieftes Menschenrecht. Uns wird immer wieder auch unterstellt, dass wir Rebellen oder Terroristen Unterschlupf bieten würden. Doch das ist bei uns ein hundertprozentiges No-Go, es kommt auch niemand mit Waffen in unsere Einrichtungen hinein. Diese Vorwürfe zeigen auf, dass es den Staaten vorrangig um nationale Interessen geht und nicht um das internationale Völkerrecht und Menschenrecht.
Wie reagieren Sie auf die Angriffe?
Wenn es gezielte Attacken auf unsere Spitäler sind, wie jener Angriff in Kunduz, fordern wir, dass die internationale humanitäre Ermittlungskommission (IHFFC) solche Vorfälle genauer untersucht. Das ist zwar kein Gericht, aber die Kommission trägt die Fakten zusammen und ist unabhängig. In der ganzen Geschichte der Genfer Konvention wurde sie nie aktiviert, es wäre also das erste Mal. Doch Ärzte ohne Grenzen kann dieses internationale Gremium nicht direkt anrufen. Wir appellieren an alle Staaten, uns zu unterstützen, denn das darf nicht folgenlos bleiben. Wie sollen wir denn sonst unsere Arbeit machen können? Wir sind nicht selten die einzige medizinische Einrichtung in einer Region von 30.000 Menschen. Wenn unser Spital zerstört wird, haben diese 30.000 Menschen keine gesundheitliche Versorgung mehr.
Sie arbeiten schon viele Jahre für Ärzte ohne Grenzen. Was hat sie bisher am meisten beeindruckt?
Die Kraft der Menschen, auszuhalten, durchzuhalten, wieder aufzustehen und weiter zu gehen. Das ist erstaunlich und absolut bewundernswert. Es kommt auch sehr viel Dankbarkeit zurück, oft dann, wenn man sich denkt, ich habe ja gar nichts Großartiges getan. Aber für die Menschen in Not ist jede freundliche Geste bereits wesentlich und wichtig.
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