Es gibt keinen hundertprozentigen Schutz
Eingeschlagene Zähne oder Psychoterror – sexualisierte Gewalt gehört in Österreich leider zum Alltag. Andrea Brem leitet seit 15 Jahren den Verein Wiener Frauenhäuser. Sie erzählt über das Leben im Frauenhaus, couragierte Passantinnen und die Gesichter von Gewalt. Interview: Kathrin Wimmer, Fotos: Karin Wasner
Frau Brem, welche Frauen mit welchem sozialen Hintergrund kommen zu Ihnen ins Frauenhaus?
Grundsätzlich kommen Frauen mit jedem sozialen Hintergrund. Im Moment haben wir Bewohnerinnen aus 28 Ländern, also sehr vielfältig. Wir haben Frauen mit einem Universitätsabschluss, und wir haben auch Analphabetinnen. Das, was sie alle vereint, ist die Gewalt, die sie durch ihren Mann oder Lebenspartner erfahren haben.
Ist es wirklich so schwierig für misshandelte Frauen, sich von ihrem gewalttätigen Mann zu trennen?
Das ist sehr unterschiedlich. Manchmal eskaliert die Situation und die Polizei kommt, weil die Frau um Hilfe schreit, dann geht die Frau vielleicht beim ersten Mal. Manche Frauen brauchen viele Anläufe, um sich aus der Beziehung zu befreien und sich endgültig zu trennen. Es gibt Studien, die sagen: Um sich aus einer Beziehung zu lösen, braucht es sechs bis sieben Anläufe. Ähnlich ist es bei unseren Frauen. Manchmal ist es schwer nachvollziehbar, warum sie so lange warten, besonders wenn man ihre Verletzungen sieht und hört, was die Frauen mitgemacht haben. Trotzdem gibt es auch viele Gründe, in einer Beziehung bleiben zu wollen. Man wünscht sich, dass alles gut ist, weil man den Mann schließlich geliebt hat. Vielleicht hat man gemeinsame Kinder, ist ökonomisch abhängig oder hat Angst, dass es noch schlimmer wird, wenn man sich trennt.
Hat das etwas mit Bildung zu tun? Trennen sich Frauen mit höherer Bildung schneller?
Nein, eigentlich nicht. Ich habe den Eindruck, dass sich die Gewalt ein bisschen verändert hat. In bildungsnäheren Schichten scheint Gewalt nicht so offensichtlich zu sein. Es gibt keine eingeschlagenen Zähne oder Hämatome, sondern es geht mehr in Richtung Psychoterror, der ja viel schwerer beweisbar ist. Das heißt, dass sich zum Beispiel ein Zahnarzt gut überlegen wird, seiner Frau ein blaues Auge zu schlagen, weil das den Nachbarn auffallen würde. Die Täter wissen, dass sie mit Konsequenzen rechnen müssen, deswegen wird Gewalt auch fieser. Sie wird unsichtbar, das heißt, sie hinterlässt keine Narben, aber sie ist nicht weniger verletzend. Mit Psychoterror meine ich keine kleinen Streitereien – eine Beziehung, wo nicht gestritten wird, ist mir suspekt. Es geht hier um Grenzen, die massiv überschritten werden, und Frauen, die täglich abgewertet und beschimpft werden. Frauen, die kontrolliert werden und teilweise nicht über ihr eigenes Geld verfügen können, wo die persönliche und seelische Freiheit massiv eingeschränkt wird. Und wenn man wenig Kontakt mit Freundinnen, mit Familien, mit anderen Menschen hat, vielleicht auch nicht mehr arbeiten darf und nur mehr hört, dass man nichts kann, dass man unfähig, hässlich und blöd ist, dann bewirkt das etwas. Das macht das Selbstvertrauen langfristig kaputt, und das schafft diese Spirale, in der die Frauen gefangen sind.
Wenn es schon so weit gekommen ist, ist es dann überhaupt möglich, sich selbst aus dieser Situation zu befreien? Oder muss zwangsläufig etwas Schlimmeres passieren, bevor man geht?
Wir haben festgestellt, dass Frauen oft in Phasen gehen, wo es gerade ein bisschen besser wird. Das ist meistens nicht der Moment, wo die ärgste Gewalt passiert, sondern einer, wo sie sich gerade wieder sammeln konnten. Irgendwann gibt es den Moment, wo die Frauen ausbrechen, weil sie merken, dass es so nicht mehr weitergeht. Sie werden auch oft von Menschen unterstützt, die nicht wegschauen. Zum Beispiel gab es vor Kurzem eine Frau, die blutverschmiert auf der Parkbank saß, und eine Passantin, die nicht einfach weiterging, sondern nachgefragt hat. Oder eine andere Frau, die eine Nachbarin im Supermarkt trifft, sie anspricht und diese zu weinen beginnt. Es gibt viele solche Beispiele.
Ich habe nicht das Gefühl, dass es diesbezüglich viele couragierte Menschen gibt. Das passiert zufällig, oder?
Das geschieht öfter, als man glaubt. Zum Beispiel rufen uns auch immer wieder Firmenchefs an und sagen: Hören Sie mal, ich habe eine Mitarbeiterin, die hat ein Problem. Das kommt gar nicht so selten vor. Ich glaube, man unterschätzt die Menschen.
Gibt es so etwas wie einen Alltag im Frauenhaus?
Der Alltag ist ein bisschen wie in einer großen Wohngemeinschaft. Frauen teilen sich entweder mit ihren Kindern oder mit anderen Frauen die Zimmer. Sie sitzen zusammen, und manchmal kochen sie auch gemeinsam. Manche arbeiten, verlassen in der Früh das Haus und kommen am Abend zurück. Andere sind nicht berufstätig oder sie sind schwanger und bleiben untertags da. Alle haben sehr viel zu tun, weil meistens viele Gerichtsverfahren offen sind und es viele Behördenwege gibt. Wir Sozialarbeiterinnen versuchen sie einerseits psychosozial zu stärken und zu stabilisieren, und andererseits beraten wir sie über gerichtliche Schritte bei Scheidung, Obsorge, Fremdenrecht oder Strafrecht. Wir bieten auch Prozessbegleitung, um zu verhindern, dass die Frauen durch das Gerichtsverfahren neuerlich traumatisiert werden. In erster Linie bieten wir einen sicheren Wohnplatz. Es ist wichtig, dass die Frauen einmal zur Ruhe kommen und sich orientieren können, um zu wissen, wie es weitergehen soll.
Aber ist das nicht gefährlich für die Frauen, an ihren alten Arbeitsplatz zu gehen? Werden sie dort oft von ihren Expartnern besucht?
Wir machen mit den Frauen eine Sicherheitsplanung, wo wir verschiedene Fragen besprechen. Zum Beispiel: Welchen Arbeitsweg nehme ich? Wie hole ich mein Kind vom Kindergarten ab? Und so weiter. Manche können das auch mit ihrem Arbeitgeber klären. Möglich ist, dass Frauen etwa ihre Filiale wechseln. Manche müssen ihre Arbeit aufgeben, weil es zu gefährlich ist, andere gehen einmalig 14 Tage lang in den Krankenstand, und danach geht es wieder. Das Gleiche gilt auch für die Kinder. Wir versuchen nach Möglichkeit, dass sie nicht Schule und Kindergarten wechseln müssen, aber dort, wo die Gefährdung zu groß ist, geht es nicht anders.
Ab wann ist die Gefährdung für Frauen zu groß? Was kann ihnen passieren?
Dass Frauen auf der Straße abgepasst werden, kann natürlich passieren. Ab und zu begleiten wir sie zu Terminen, wo sie mit ihrem Expartner zusammentreffen, zum Beispiel bei einer Scheidung. Bei solchen Gelegenheiten kommt es manchmal zu neuerlicher Gewalt. Dann muss man mit der Sicherheitsplanung wieder von vorn beginnen. Grundsätzlich ist es so, wenn eine Gewaltproblematik vorliegt, gibt es auf Dauer nie einen 100-prozentigen Schutz. Im Frauenhaus, glaube ich, sind die Frauen und Kinder sehr sicher, aber irgendwann müssen sie raus, und man kann nicht hundert Frauen permanent bewachen. Aber es gibt verschiedene Varianten, wie sie sicher von A nach B kommen.
Wie lange können die Frauen im Frauenhaus bleiben?
Solange es die Gewaltsituation verlangt. Viele nützen das Frauenhaus nur kurz, für zwei Wochen. Die meisten bleiben von drei Monaten bis zu einem halben Jahr, und ganz wenige müssen länger bleiben.
Wie viele Frauen schaffen es, sich dauerhaft von ihren gewalttätigen Männern zu trennen? Gibt es eine Erfolgsquote?
Es gehen schon viele Frauen zurück, aber ich würde das trotzdem nicht als Misserfolg sehen. Ich glaube, dass die Frauen bei uns erfahren: Aha, es gibt uns. Und wenn es ein Problem gibt, können sie wiederkommen. Das ist viel wert. Wenn du davor das Gefühl hattest, dass du nirgends hingehen kannst, ist es eine andere Haltung, als wenn du weißt: Okay, wenn es gar nicht mehr geht, kann ich dort hinkommen. Wir informieren sie über ihre Rechte, gerade für ausländische Frauen, ist es wichtig zu wissen, wie unser Rechtssystem funktioniert. Also ich glaube, dass auch „Kurzaufenthalte“ für die Frauen bestärkend sind.
Von österreichischen Männern hört man in letzter Zeit oft, dass man die „hilflosen“ Frauen vor den „bösen“ Flüchtlingen schützen müsse. Das sind vermutlich dieselben Männer, die vor einem Jahr behauptet haben, Po-Grapschen unter Strafe zu stellen sei lächerlich. Haben Sie das Gefühl, dass sich an der Haltung der Österreicher etwas verändert hat?
Ich weiß, dass sich auf jeden Fall auf der Gesetzgebungsbasis etwas verändert hat. Wäre Köln in Wien passiert, wären vor einem Jahr die meisten Anzeigen nicht strafbar gewesen. Jetzt ist es zumindest sichtbar geworden, so ein Gesetz zu haben. Aber ich glaube nicht, dass sich an der Haltung etwas geändert hat. Sexuelle Gewalt ist nach wie vor etwas, das die anderen betrifft, aber nicht einen selbst. Real ist aber schon, dass der Gewalttäter nicht aus dem Busch springt, sondern sehr oft der eigene Ehemann ist. Dieser hält sich nicht an Grenzen und akzeptiert kein „Nein“. Frauen müssen oft Sexualpraktiken machen, die sie mit dem allergrößten Widerwillen über sich ergehen lassen. Viele Frauen werden jede Nacht von ihren eigenen Männern vergewaltigt, definieren das aber nicht so, weil sie glauben, dass das zur Ehe dazugehört. Fakt ist aber, dass das in Österreich strafbar ist. Egal ob ÖsterreicherInnen oder AsylwerberInnen – es kommt überall vor. Sexuelle Gewalt wird schnell bagatellisiert.
Kann es sein, dass die Gesellschaft momentan sensibler auf das Thema reagiert?
Die Vorfälle in Köln zu Silvester waren schon ein Einschnitt. Zumindest in Österreich hatten wir aber keine richtige Analyse des Problems. Bei uns schwankt man zwischen „Die Medien haben alles verzerrt“ und „Rassismus“. Das Thema dazwischen kommt zu kurz. Das finde ich schade. Wir müssen genauer hinschauen. Wie vorhin angesprochen sind die, die sich über den Grapsch-Paragrafen lustig gemacht haben, jetzt die, die am lautesten schreien. Das ist ärgerlich, weil es uns auch die Energie nimmt, sexuelle Gewalt wieder laut anzusprechen. Wir wollen ja keine bestimmte Seite bedienen, sondern es geht darum, Frauen vor Gewalt zu schützen.
Wie ist das bei Ihnen? Fühlen Sie sich sicher auf den Straßen?
Als Frau in der Stadt habe ich mich immer relativ sicher gefühlt in Wien. Wenn man in der Nacht allein auf der Straße geht und es kommt einem ein Mann entgegen, checkt man immer ein bisschen ab, ob er was Bedrohliches hat oder nicht. Ob sich das jetzt verstärkt hat, weiß ich nicht. In der U-Bahn hat mich das zum Beispiel immer gestört, wenn sich Männer so breit hinsetzen, das habe ich immer schon unangenehm gefunden, weil es mich auch ärgert, dass ich dadurch meinen Platz nicht haben kann. Ich bin davon überzeugt, dass es keine zufälligen Belästigungen gibt. Das heißt, jede Frau spürt sofort, ob die Berührung mit dem Knie Absicht war. Die Frage ist nur, ob ich mich jetzt durch einen arabischen Mann schneller belästigt fühle als durch einen Österreicher. Man muss natürlich aufpassen, dass man nicht ungerecht wird. Andererseits bin ich in letzter Zeit zweimal von migrantischen Männern als „Hure“ beschimpft worden, das ist mir schon lange nicht mehr passiert. Das Beschimpfen ist ja leider in Wien nicht so unüblich, aber das Wort „Hure“ hat mich schon sehr geärgert. Jetzt weiß ich aber nicht, ob ich das vor einem Jahr gleich sensibel wahrgenommen hätte oder ob ich mich durch die aktuelle Diskussion als Frau schneller empöre.
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