Für einen progressiven Wandel
Die Türkei erlebt unter der AKP ein Patriarchat mit einer raffinierten Mischung aus Neoliberalismus, religiösem Konservativismus und Nationalismus. Nun bilden sich Frauennetzwerke gegen diese Entwicklungen. Text: Ayse Dursun
Mit einem wachsenden Konservativismus und Nationalismus in der Türkei rücken manche Werte zunehmend in den Vordergrund. Zum Beispiel der Glaube an die Komplementarität statt an die Gleichberechtigung der Geschlechter; oder auch Praktiken wie die der Strafmilderung für den männlichen Gewalttäter aufgrund „ungerechter Provokation“ seitens der Frau. Wir erleben aber nicht nur Zeiten deutlicher Repression, sondern auch wachsenden Widerstandes, wenn bestehende Verhältnisse hinterfragt und politische Alternativen erprobt werden. Es sind Frauenbewegungen, die in der Türkei heute eine besonders wichtige Quelle für einen progressiven gesellschaftlichen Wandel darstellen. Der Krieg im Inland sowie in der Region, in Syrien und im Irak drängt frauenpolitische Themen schnell in den Hintergrund. Dann geht es um Themen wie „nationale Sicherheit“ und „Geopolitik“, die besonders prominent diskutiert werden. Zum anderen sind es die von Feministinnen und anderen progressiven Frauengruppen vorangetriebenen Ideen und Vorstellungen, die das Potenzial haben, den Ursachen – Ausbeutung, Akkumulation, Konkurrenz, Gewalt – bestehender Krisen entgegenzuwirken.
Die Geschlechterpolitik der AKP
Die Politikwissenschaftlerinnen Simten Coşar und Metin Yeğenoğlu unterscheiden zwischen drei historischen Modi des Patriarchats in der Türkei. Diese Typologie vermittelt zum einen deskriptiv unterschiedliche historische Manifestationen des Patriarchats und konzipiert das Patriarchat als ein historisches und dynamisches Regime. Zum anderen enthält diese Typologie möglicherweise Hinweise darauf, durch welche Mittel oder Zusammenschlüsse Frauenbewegungen spezifische Modi des Patriarchats bekämpfen (können). Der erste Modus, das republikanische Patriarchat, hegemonisierte den Diskurs über die Emanzipation der Frau bis in die 1980er. Der Status der Frau verbesserte sich durch Kemalistische Reformen in den 1920ern und 1930ern wie die Einführung des Bürgerlichen Gesetzbuches (1926) und des Wahlrechts für Frauen auf kommunaler (1930) und nationaler Ebene (1934). Gleichzeitig diente die moderne gesetzliche Grundlage, das Bürgerliche Gesetzbuch, der Institutionalisierung der patriarchalen Kernfamilie mit dem Mann als Familienoberhaupt. Die Rolle der Frau wurde auf die der „gnädigen und tugendhaften Mutter der Nation“ reduziert. Ab den 1980ern erlebte die Türkei eine Liberalisierung des Marktes, die durch einen Militärputsch und die Auflösung des Parlaments, der Gewerkschaften und anderer (linker) Organisationen nachhaltig institutionalisiert werden konnte. Im liberalen Modus des Patriarchats, der charakteristisch für diesen Abschnitt ist, werden Ehefraulichkeit und Mutterschaft im Diskurs von der öffentlichen Sphäre abgekoppelt und als persönliche Entscheidung verstanden, um Frauen jenseits ihrer unbezahlten Arbeit im Haushalt auch als bezahlte Arbeitskraft in den sich dehnenden Markt einzubeziehen. Laut Coşar und Yeğenoğlu erleben wir gegenwärtig den laufenden Übergang vom republikanisch-liberalem zum religiösneoliberalen Patriarchat, das ist der dritte Modus, nunmehr unter AKP-Führung seit dem Jahr 2002. Mit der neoliberalen Transformation seit den frühen 2000er Jahren wurden Frauen, die einen ohnehin vergleichsweise geringen Anteil am Arbeitsmarkt ausmachten, zunehmend zu flexiblen und unsicheren Arbeitskräften. Der Prozess der Prekarisierung ist begleitet von einem konservativen Moralverständnis, das der Tradition, dem Glauben und der Familie eine Heiligkeit zuspricht. Das Privateigentum wird als Baustein der Familie moralisiert. Dieser Modus des Patriarchats enthält Elemente des Neoliberalismus, des Nationalismus und religiös orientierter Politiken. Die amtierende AKP-Regierung mit ihren Sozial- und Wirtschaftspolitiken und Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan sind die zentralen Treibkräfte hinter diesem Modus des Patriarchats, der sich durch alltägliche Gebräuche innerhalb der Gesellschaft legitimiert und konsolidiert.
Die Diskurse und Politiken der AKP sind eher widersprüchlich als einheitlich und strategisch als auch ideologisch. Neben dem Nationalismus und religiösen Konservativismus integrierte die AKP zeitweise einen gewissen Liberalismus in ihren Argumentationsmustern, zum Beispiel ihre Haltung pro EU-Beitritt der Türkei. In der ersten Amtsperiode hielt die AKP Dialogkanäle mit Frauenorganisationen offen, Frauen konnten ihre Forderungen in die politische Tagesordnung und sogar in das Gesetz einbringen. Ein Beispiel dafür ist die Reform des Strafgesetzes im Jahr 2004. Danach verzichtete die AKP jedoch zunehmend auf den Austausch mit Frauenbewegungen. Restriktive Politiken etwa in Bezug auf das Recht auf Abtreibung und Verhütung setzte man oftmals auch ohne gesetzliche Grundlage um. Feministinnen gerieten zur Zielscheibe sexistischer Angriffe seitens hoher Parteifunktionäre. Ganz unterschiedliche Frauenbewegungen fanden sich deshalb in einem zunehmend feindlichen politischen Umfeld.
Fehlende Frauenhäuser
Es besteht heute eine Vielzahl von Frauenbewegungen in der Türkei, die sich zu unterschiedlichen politischen Anliegen und Identitäten bekennen. Zwei Themen stechen aufgrund ihrer Zentralität und Dringlichkeit gegenwärtig besonders heraus: Gewalt an Frauen und der (Bürger-)Krieg. Seit den 1980ern haben Feministinnen häusliche Gewalt skandalisiert und politisiert, indem sie die Trennung des „Privaten“ und vom „Öffentlichen“ dekonstruierten („Das Politische ist persönlich“). Sie forderten dabei den Staat auf, die physische, psychische und sexuelle Integrität und Selbstbestimmung der Frauen zu gewährleisten.
Häusliche Gewalt und Mord an Frauen haben in den vergangenen Jahren kontinuierlich zugenommen. Es werden täglich bis zu drei Frauen ermordet, zum größten Teil seitens ihrer intimen Partner oder männlicher Familienmitglieder. Laut einer Studie aus dem Jahr 2009 erlitten 39 Prozent aller verheirateten Frauen, physische Gewalt, 15 Prozent sexuelle Gewalt sowie 44 Prozent psychische Gewalt. Offizielle Daten werden aber nicht erhoben, in den meisten Fällen werden zudem die Behörden nicht verständigt. Täter dürften sich durch das von der Regierung propagierte konservative Familien- und Frauenbild ebenso ermutigt fühlen wie durch eine mangelnde Infrastruktur, etwa Frauenhäuser, und den fehlenden Willen, geschlechtsbasierte Straftaten systematisch und konsequent zu verfolgen. Der feministische Aktivismus hingegen engagiert sich im Fall von „Gewalt gegen Frauen“ auf verschiedenen Ebenen, von der Unterbringung und Beratung von Frauen bis zum Monitoring von Gerichtsverfahren gegen die Täter. Auch Daten über Gewalt an Frauen werden gesammelt.
Das Lila-Dach-Frauenhaus (Mor Çatı Kadın Sığınağı Vakfı), ein autonomes feministisches Kollektiv, stellt seit 1990 ein wichtiges Solidaritätsnetzwerk und eine zentrale Institution des frauenpolitischen Kampfes gegen Gewalt dar. Eine jüngere Initiative des Feministischen Kollektivs Istanbul (Istanbul Feminist Kolektif) berichtet monatlich in den sogenannten „Frauen beanspruchen ihr Leben zurück“ (Kadınlar Hayatlarına Sahip Çıkıyor)-Mitteilungsschriften über aktuelle Fälle, in denen Frauen Männer verletzten oder ermordeten, die ihnen physischen, psychischen oder sexuellen Schaden zugefügt haben. Während Feministinnen solche Taten von Frauen gegenüber männlichen Gewalttätern als Selbstverteidigung verstehen und vor Gericht Freisprüche verlangen, decken sie gleichzeitig die Bevorzugung von Männern im Gerichtsverfahren systematisch auf. Eine jüngere Initiative muslimischer Frauen gegen Gewalt (Kadına Şidette Karşı Müslümanlar Inisiyatifi) politisiert das Thema auch in konservativen Segmenten der Gesellschaft, wo Gewalt noch immer hauptsächlich als „privat“ verstanden wird.
Neue Allianzen
Eine friedliche Lösung der seit den 1980ern mit schwankender Intensität andauernden bewaffneten Auseinandersetzung zwischen dem türkischen Staat und der PKK (Arbeiterpartei Kurdistans) ist ein weiteres Anliegen von Frauenbewegungen. Krieg gilt als männlich konnotierte „high politics“, die Frauen aus der politischen Debatte ausschließt. Der Krieg wird von Männern beschlossen und von Männern geführt. Eine feministische bzw. frauenpolitische Intervention in den Krieg bedeutet zunächst, die Debatte zu gendern, indem die geschlechtsspezifischen Folgen des Krieges identifiziert und ein alternativer Diskurs jenseits der nationalistisch-militaristischen Rhetorik aufgebaut wird. Için Kadın Girişimi plädiert seit 2009 für die (Wieder-)Aufnahme von Friedensverhandlungen zwischen der türkischen Regierung und der PKK. Mit dem Slogan „Wir haben das Sagen über den Frieden; wir haben die Kraft, eine Lösung zu finden“ schaffen Frauen Räume, Netzwerke und Möglichkeiten, Alternativen für den Aufbau eines dauerhaften Friedens zu finden. Eine Besonderheit dieser Initiative ist der seltene Zusammenschluss von Frauen aus unterschiedlichen Ideologien und Bewegungen – beispielsweise feministische, kurdische, muslimische –, wobei diese Ideologien und Identitäten sich häufig überschneiden. Die Zusammensetzung dieser Initiative weist zum einen eine theoretische und zum anderen eine strategische Stärke für emanzipatorische Frauenpolitik in der Türkei auf. Die Entstehung und Zusammensetzung der Gruppe weist auf die Erkenntnis hin, dass der soziale Status von Frauen durch das Zusammenspiel vieler gesellschaftlicher Verhältnisse (z.B. Geschlecht, Klasse, Ethnizität, Religion) bestimmt wird. Durch diese Erkenntnis lassen sich des Weiteren ideologie- und bewegungsüberschreitende Allianzen von Frauen schließen, um gemeinsame Ziele kollektiv zu verfolgen.
Lösung bestehender Krisen
Vor dem Hintergrund des aktuellen Modus des Patriarchats in der Türkei, welcher eine raffinierte Mischung aus Neoliberalismus, religiösem Konservativismus und Nationalismus darstellt, weisen Frauenbewegungen großes Potenzial für eine progressive gesellschaftliche Transformation auf. Während der religiös-konservative Neoliberalismus die Frau weiterhin prekarisiert und geschlechterpolitische Anliegen entpolitisiert und privatisiert, nimmt jede Form von Gewalt gegen Frauen kontinuierlich zu. Auch der andauernde Krieg trägt zusätzlich zu der Verletzbarkeit des Lebens und der Rechte von Frauen und anderen Betroffenen bei. Durch ihre Anti-Gewalt- und Anti-Krieg-Schwerpunkte enthüllen Frauenbewegungen den Kern der Malestream-Politik, die keine Lösung für bestehende Krisen anbieten kann, weil gerade sie der Ursprung und Quelle dieser ist.
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