Drei Fakten zu Polen
Keine Frage: Polen unter Kaczyński, das gibt kein schönes Bild. Antisemitische
Töne und Säuberungen der staatlichen Medien wecken Besorgnis in Europa. Doch trotz aller Empörung – ein paar Dinge sollten dennoch zurechtgerückt werden. Text: Piotr Dobrowolski
Die Tatsachen zuerst: Ja, Jarosław Kaczyński versucht mit allen Mitteln, Polens Verfassung zu seinen Gunsten zu ändern. Ja, er säubert das Militär, die Polizei und die staatlich kontrollierten Medien gnadenlos von allen, die seine nationalen Ideale nicht teilen. Ja, sowohl Premierministerin Beata Szydło als auch Präsident Andrzej Duda haben sich in ihrem bisherigen Handeln als völlig rückgratlose Marionetten von Kaczyński erwiesen. Ja, in ihrem Kern ist Kaczyńskis Recht und-Gerechtigkeitspartei PiS autoritär und bis weit in ihre Führung hinein antisemitisch. Und ja: Die PiS-Leute denken derart national, dass sie dieses Denken auch anderen aufzwingen wollen – etwa indem sie Schulbücher zensieren und umschreiben. Und ja, das auch: Jarosław Kaczyński ist die menschlich unangenehmere und deutlich gefährlichere Version seines beim Flugzeugabsturz von Smolensk verstorbenen Zwillingbruders. So manches Zitat von Jarosław Kaczyński ist so unanständig, dass man wider besseres Wissen glauben möchte, es sei bloß von seinen GegnerInnen erfunden worden, um ihn zu diffamieren. Zum Beispiel dieses hier über Flüchtlinge: „Cholera auf den griechischen Inseln, Ruhr in Wien, alle Arten von Parasiten und Bakterien, die in den Organismen dieser Menschen harmlos sind, können hier gefährlich werden. Das heißt nicht, dass man jemand diskriminieren soll, aber überprüfen muss man diese Dinge schon.“ Das ist tatsächlich nicht mehr allzu weit vom nationalsozialistischen Topos entfernt, wonach Juden als Hauptüberträger von Typhus besonders gefährlich seien. Und dennoch: Die Art, wie Polen seit Kaczyńskis Wahlsieg im Ausland wahrgenommen wird, hat etwas Übertriebenes, Reflexgesteuertes. Hauptsache, so scheint es, es gibt neben Viktor Orban noch einen Buhmann im Haus Europa, der als Projektionsfläche für alles Böse, vor allem aber für die eigene moralische Überlegenheit dienen kann. Sehr oft reduziert sich die Kritik an Kaczyński daher letztlich auf jenes Argument, mit dem schon vor mehr als 35 Jahren notorische Sowjet-Versteher gegen die freie Gewerkschaft Solidarność und gegen Lech Walesa argumentiert haben: Der polnische Nationalcharakter, so lautete damals das Argument, sei derart chauvinistisch, hinterwäldlerisch, katholisch und in der Vergangenheit verwurzelt, dass man sich vor seinen RepräsentantInnen dringendst in Acht nehmen müsse. Anders gesprochen: Egal ob damals Moskau oder heute Brüssel – wenn es politisch wird, braucht der rückständige Pole einen aufgeklärten Vormund. Das hat schon damals nicht gestimmt und stimmt heute noch weniger. Dazu drei Fakten.
1. Mag sein, dass Kaczyński ein autoritäres Polen der Zwischenkriegszeit wiederauferstehen lassen will. Die Polen selbst wollen das nicht.
Schon die so oft zitierte Behauptung, dass Kaczyński bei der Wahl im Herbst die absolute Mehrheit erreicht hätte, führt in die Irre. Denn dank der polnischen Wahlordnung, für die Kaczyński ausnahmsweise einmal nichts kann, konnte seine PiS-Partei mit gerade einmal 37,5 Prozent der Stimmen die Mehrheit der Sitze im Sejm, dem Oberhaus des Parlaments, gewinnen. Doch das ändert nichts an der Tatsache, dass die Mehrheit der Polen Kaczyński eben nicht gewählt hat. Erst recht drastisch wird das Verhältnis, wenn man die Zahl der Stimmen für Kaczyńskis Partei mit jener aller Wahlberechtigten vergleicht, also auch jener, die zu Hause geblieben sind. Da stehen dann 5,7 Millionen Kaczyński-WählerInnen 25 Millionen Polen und Polinnen gegenüber, die ihn nicht gewählt haben. Das heißt nicht zwangsläufig, dass jedem und jeder Einzelnen dieser 25 Millionen sofort ein demokratiepolitischer Persilschein ausgestellt werden muss. Wie anderswo auch gibt es in Polen DemokratInnen, politisch Verrückte, Linke, Rechte, Fremdenhasser, Altruisten, die ganze Palette eben. Doch entgegen der sehr rigiden Haltung der PiS-Partei in der Flüchtlingsfrage, deuten Meinungsumfragen darauf hin, dass sich Polen auch in menschenrechts- und demokratiepolitischen Dingen durchaus im Rahmen des Europadurchschnitts bewegt. So sind etwa nach Angaben des Meinungsforschungsinstituts TNS vom November 30 Prozent der polnischen Bevölkerung der Ansicht, dass Flüchtlinge eine Bereicherung für Polen sein können. In Österreich waren bei einer Umfrage von Marketagent.com im vergangenen Oktober 28 Prozent dieser Ansicht, allerdings mit der Einschränkung, dass das jene Bereiche betrifft, in den Arbeitskräftemangel herrscht. Freilich: Der schweigenden Mehrheit der Kaczynski-NichtwählerInnen kann, wie jeder schweigenden Mehrheit, dennoch vorgeworfen werden, dass sie ja deshalb schweigt, weil sie die herrschenden Verhältnisse entweder gutheißt oder resigniert hat. Wer die Ereignisse der letzten Wochen und Monate in Polen genauer verfolgt hat, kommt allerdings zu einem anderen Urteil. Die Kraft, die Beständigkeit und die unendliche Zahl von Protesten und Demonstrationen gegen Kaczyński zeigen: Man kann den Polen vielleicht den Vorwurf machen, dass sie gegen eine demokratisch gewählte Regierung demonstrieren, aber sicher nicht, dass sie diese Regierung bejubeln. Und um auch einmal in Zahlen zu zeigen, wie breit die Ablehnung von Kaczyński in Polen ist: Allein im Jänner haben die von Kaczyński zu einem Propagandaspektakel degradierten Hauptabendnachrichten im Ersten Programm des öffentlichen Fernsehens 410.000 Seher verloren! Das sind fast 10 Prozent. Und die Zahlen kommen nicht von der Opposition, sondern vom krisengeschüttelten Sender selbst. Die symbolische Bedeutung des Nachrichtenboykotts ist übrigens für jeden geschichtsbewussten Menschen in Polen offensichtlich: In einer der schlimmsten Perioden des Kommunismus, während des Kriegsrechts der 1980er-Jahre, war es üblich, zur Zeit der Hauptabendnachrichten in den Hauptstraßen der Städte zu promenieren, um einander so zu versichern, wie sehr man das staats- und parteitreue Fernsehen verabscheut. In den gegängelten Medien selbst gärt es ebenfalls: Unzählige JournalistInnen haben von sich aus den gleichgeschalteten Staatsfunk verlassen, auch aus Solidarität mit ihren entlassenen Kollegen. Immer mehr Prominente weigern sich, im öffentlichen Fernsehen aufzutreten. Und sie tun ihre Ablehnung öffentlich kund wie zum Beispiel Seweryn Blumsztajn, einst eine antikommunistische Widerstandsikone, heute einer der bekanntesten Publizisten Polens. „Mich bitte nicht mehr anrufen, ich werde nicht kommen“, richtete er Kaczyńskis TV-Machern in einem offenen Brief aus.
2. Viele Kaczyński -GegnerInnen im Westen wissen gar nicht, wie eng politisch
verwandt sie mit ihm in Wirklichkeit sind.
Es ist naturgemäß die europäische Linke, die Kaczyński besonders heftig kritisiert. Ein Nationalist, ein konservativer Katholik und obendrein ein notorischer Fremdenfeind – könnte es ein passenderes Feindbild geben? Allerdings: Was viele ausländische Kaczyński-Kritiker nicht wissen – Kaczyński will das von seinen Vorgängern hinaufgesetzte Pensionsantrittsalter wieder auf 65 Jahre für Männer und 60 für Frauen senken. Unerhört? Für um das Budget besorgte Neoliberale ganz gewiss. Kaczyński will für Wenigerverdiener Beitragsbefreiungen im Gesundheits- und Pensionssystem einführen. Unerhört? Für um das Budget besorgte Neoliberale ganz gewiss. Kaczyński hat übrigens auch die staatliche Familienbeihilfe massiv erhöht. Und eine Bankensteuer auf den Weg gebracht. Er wettert nicht nur gegen multinationale Konzerne, sondern er will – das ist aber in der Tat nationalistisch – polnische Unternehmen viel stärker mit Fördergeldern beschenken als internationale. Für alle FreundInnen der kommunalen Nahversorgung gibt es aus Polen ebenfalls gute Infos: Um kleine Greißler, von denen es in Polen noch viele gibt, vor dem Untergang zu bewahren, sollen große Einkaufscenter an den Rändern der Stadt in Zukunft stärker besteuert werden als kleine Läden.
Freilich: Die Tatsache, dass diese wirtschaftspolitisch eher linke Agenda ausgerechnet von einem erklärten Rechten in Angriff genommen wird, ist seltsam. Das ist allerdings nicht unbedingt als ein Hinweis auf ein besonders konservatives polnisches Fluidum zu werten, sondern eher als ein Beleg für das Versagen der dortigen Linken. Die hatte übrigens unter Leszek Miller einmal an die 40 Prozent. Sie hat es geschafft, dieses Vertrauen fulminant zu verspielen.
3. Kaczyński wird scheitern. Dafür wird auch die Ökonomie sorgen.
Und schließlich gilt: Auch wenn Polen in vielen Regionen immer noch arm, bäuerlich geprägt und ökonomisch tatsächlich rückständig ist – in Summe ist die wirtschaftliche Entwicklung, die das Land seit dem Ende des Kommunismus durchgemacht hat, beeindruckend. Von 1.698 US-Dollar auf 14.411 US-Dollar ist das BIP pro Kopf seit 1990 gestiegen, also um 848 Prozent. Österreich schaffte – zugegeben von einem deutlich höheren Niveau aus – in dieser Zeit nur rund 230 Prozent. Die Arbeitslosenquote hat sich in den letzten zehn Jahren in Polen von dramatischen 20,7 Prozent auf 9,6 Prozent mehr als halbiert. Und gerade erst hat Forbes Polen als das drittbeste Land der Welt gelistet, um ein Start-up zu gründen. Noch besser schnitten nur China mit Peking und Shenzhen bzw. Malaysia ab. Das weiß man in Polen zu schätzen. Sobald Kaczyński diese Erfolge gefährdet, wird er daher Geschichte sein. Was die Polen und Polinnen aber auch schätzen, ist die völlig veränderte geopolitische Bedeutung des Landes. Von einem bedeutungslosen Mitglied des Warschauer Paktes ist es während des vergangenen Vierteljahrhunderts zu einem wichtigen Player innerhalb der Europäischen Union geworden. Und zu einem wichtigen US-Verbündeten obendrein. Kaczyński passt mit seinen antiwestlichen Phobien da einfach nicht dazu. Und nebenbei gesagt: Kaczyńskis ökonomisch bedingter Niedergang hat bereits begonnen. Um fast 25 Prozent ist der Leitindex der Warschauer Börse, der WIG 20, gefallen, seit die PiS die Wahlen gewonnen hat. Auf BBB+ hat die Ratingagentur Standard & Poor’s Polen im Jänner abgewertet und dabei weitere Abwertungen nicht ausgeschlossen. Die PiS reagierte auf die Abstufung übrigens auf ihre ganz eigene Art antikapitalistisch-skurril: Als Teil einer „linksgerichteten Verschwörung“ gegen Polen bezeichnete das negative Rating ein Parteisprecher.
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