Wir sind die 99 Prozent
Eine Volksschule, groß wie die Welt: Die „Regenbogenvolksschule“ im 2. Wiener Gemeindebezirk nimmt all jene auf, die in diesem Land angekommen sind. Kinder aus deutschsprachigen Haushalten sucht man dort hingegen vergeblich. Reportage: Stefan Kraft, Fotos: Karin Wasner
Als ich das Gebäude der „Regenbogenvolksschule“ in der Darwingasse betreten will, hindert mich ein Schwall an SchülerInnen daran. Die Lehrerin teilt zwei Mädchen dazu ein, die Tür aufzuhalten, dann ergießt sich die Klasse auf die Gasse. Die Mädchen halten auch mir artig die Tür auf, dann entfernt sich der Pulk. Wie ich kurz darauf erfahre, gehört die Gruppe nicht zur Volksschule Darwingasse, sondern zur Volksschule Vereinsgasse und war heute für ein deutsch-türkisches Theaterstück zu Besuch. Zwischen den beiden Schulen liegen zwar nur ein paar hundert Meter, aber gewaltige Unterschiede an sozialem und kulturellem Milieu. Auch darauf wird Renate Kammer, die Direktorin in der Darwingasse seit nun fast 12 Jahren, im Lauf dieses Vormittags zu sprechen kommen.
Fehlende Mittelschicht
Die von vielen MigrantInnen bewohnte Gegend in diesem Teil des zweiten Wiener Gemeindebezirks zwischen Augarten und Praterstern ist eine, die die Mittelschicht erst seit ein paar Jahren bezieht. Als ich zu früh vor Schulbeginn hier eingetroffen bin, wollte ich das auf diesen Märkten übliche Hipstercafé besuchen. Doch da es erst um 10 Uhr aufsperrt, ging ich ins serbische Espresso nebenan. Den darauffolgenden Weg vom Markt zur Regenbogenvolksschule unternehmen nur die wenigsten der hier wohnhaften deutschsprachigen Eltern. Am Tag der offenen Tür, erzählt mir Renate Kammer im Zimmer der Direktion, ginge es in ihrer Schule „mehr als entspannt“ zu. „Ich habe immer wieder österreichische Eltern da, die begeistert sind von dem, was ich ihnen zeige. Aber bei der Einschreibung waren sie nicht mehr gesehen.“ Ein Grund: die fehlende Mehrstufenklasse, in der alle Schulstufen im selben Raum unterrichtet werden. „Das ist bei Österreichern der Mittelschicht besonders in“, so Kammer. „In unserer Schule gibt es das allerdings nicht, weil früher Lehrerinnen, um in so einer Klasse unterrichten zu können, eine reformpädagogische Ausbildung brauchten, also Unterricht nach Montessori oder Freinet. Das hatte kein Lehrer und keine Lehrerin bei uns an der Schule.“ Außerdem, so Kammer, dürfe es nur eine bestimmte Anzahl an Klassen geben, da Mehrstufenklassen noch immer ein Schulversuch sind. Die Höchstzahl im Bezirk sei aber bereits erreicht. Und dann gibt es noch diesen anderen Grund: 99 Prozent der SchülerInnen in der Darwingasse sprechen nicht Deutsch als Muttersprache. „Wir sind es seit vielen Jahren gewohnt, keine österreichischen Kinder mehr zu betreuen.“ Im Online-Forum des „Standard“ gab eine unvorsichtige Mutter vor ein paar Jahren bekannt, dass ihr deutschsprachiger Sohn die Regenbogenvolksschule besuchen würde. Die Antworten reichten von „Hauptschule ist vorprogrammiert“ bis „Wie können Sie das Ihrem Sohn nur antun?“. All jene, die es ihren Kindern doch antun, hierherzu kommen, schicken sie in eine Schule, die das zumeist leere Schlagwort vom „interkulturellen Lernen“ mit Leben erfüllt. „Interkulturelles Lernen“, sagt Kammer, „heißt auch, dass die Kinder voneinander, von ihren Kulturen lernen.“ Die Schule organisiert gemeinsame Ausflüge, in die Synagoge, in die Moschee, man feiert gemeinsam das islamische Zuckerfest wie den christlichen Advent. Bei insgesamt sieben katholischen Kindern in der gesamten Schule. All jene, die es ihren Kindern doch antun, hierherzukommen, schicken ihr Kind in ein eben erst um mehrere Millionen renoviertes Gebäude, das so gar nicht riecht und wirkt wie eine Schule, weil der Mief fehlt in den frisch ausgemalten Räumen, weil die neuen Möbel nicht frontal auf den Lehrer ausgerichtet sind, weil die Kinder ihre Tische in Karrees zueinander gestellt haben. Ich bemerke dies beim Englischunterricht in der 2. Klasse, eine der ersten Schulstunden, die ich heute besuche. Keine Glocke hat ihren Beginn angekündigt, denn in dieser Schule gibt es keine Glocken und verdächtig wenig Lärm.
Die Kinder scheinen es gewohnt zu sein, dass sich mehr als ein Erwachsener im Raum aufhält, sie interessieren sich nicht weiter für den Mann mit dem Schreibblock. In fast jeder Klasse sitzen BegleitlehrerInnen, meist für die Muttersprachen wie Bosnisch/Kroatisch/Serbisch oder Türkisch, oder auch PensionistInnen, die ihre freie Zeit beim Lernen und Vorlesen mit den Kindern verbringen. Der junge Englischlehrer fordert sein Publikum, er schlägt einen schnellen Ton an, er spricht ausschließlich in der Unterrichtssprache, er lässt kaum eine Pause zu und bewegt sich wippend zwischen den Tischen. Zahlen werden heute durchgenommen, nineteen, ten, thirteen, sagt Gabriela aus Südamerika auf. Das gute Niveau der Kinder ist auffällig, der Ehrgeiz des jungen Lehrers ebenso. Wir gehen zwei Stockwerke tiefer und wechseln in den Deutschkurs
Kurdische Schneeflocke
„Schneeflöckchen, Weißröckchen“, singt Nasrallah. „Wann kommst du geschneit?“, singt Marian. Ihr Deutschlehrer hält kleine Taferln hoch, mit einem Fenster, mit einem Stern. „Komm setz dich ans Fenster, du lieblicher Stern“, singt Damian. „Wir haben dich gern“, singt Alan. Vier Kinder in einem großen Klassenraum, denen Christof Bachlechner heute zusammengesetzte Hauptwörter beibringt, Wörter wie „Schneepflug“ und „Schneeschaufel“ und „Eislaufplatz“. Wörter, die in den Muttersprachen von Nasrallah und Marian und Damian, in Kurdisch und Arabisch, nicht so oft vorkommen wie im Lehrplan einer österreichischen Volksschule. Die Deutschkurse finden parallel zum anderen Unterricht statt, in dem manche Kinder mangels Sprachkenntnis noch nicht vollständig mitkommen. Das kurdische Mädchen Marian wird bald mitkommen, sie schreibt fehlerfrei „Schneeflocke“ an die Tafel. „Das sind Situationen, in denen mir das Herz aufgeht“, beschreibt Kammer ihre Erlebnisse, wenn Kinder nach einem Jahr Deutschunterricht in die Sprechstunde kommen, um für ihre Mütter zu übersetzen.
Einen eigenen Deutschkurs für Flüchtlinge gibt es in der Darwingasse auch, und es gab ihn schon, bevor diese Thematik breit diskutiert wurde. „Wir haben schon länger Flüchtlinge, nur war das nie Thema. Jetzt müssen wir auch angeben, wie viele wir haben.“
Alter österreichischer Lehrkörper
1876 wurde die Volksschule in der Darwingasse gegründet, 1979 begann Renate Kammer hier zu unterrichten, damals zu 99 Prozent Kinder aus deutschsprachigen Haushalten. Während sich die Herkunftsländer der Kinder veränderten, blieb der Stamm der LehrerInnen bestehen, „ein alter Lehrkörper“, nennt das die Direktorin, „wir sind seit vielen Jahren zusammen.“ Mit der Jugoslawien-Krise in den 1990ern begann die Schule zu einer Heimstätte für Neuankömmlinge zu werden, „das hat sich dann so ausgeweitet“, erzählt Kammer. Türkische Kinder, angezogen von ersten Versuchen mit türkischen PädagogInnen, kamen hinzu, erst einige Zeit später entstand das bunte Gemisch, das die 185 Kinder in acht Klassen heute ausmacht. Mittlerweile bildet die Regenbogenvolksschule die Migrationsströme ab, die nach Wien fließen: In den Klassen finden sich nun vermehrt Kinder aus Syrien, Tschetschenien, aus dem Iran, aus Afghanistan oder Somalia.
„Die Lehrer sind mitgewachsen. Sie müssen sehr viel Engagement an den Tag legen, um die diversen Sprachniveaus zu beschäftigen. Die Guten zu fördern, die Schwachen zu fördern und trotzdem alle auch zu fordern. Das ist ein gewisser Gewaltakt, der da stattfindet, den Kindern verschiedene Arbeitsmöglichkeiten und Situationen zu bieten, dass eben jeder nach seinen Möglichkeiten etwas bekommt.“ Kein ausgerufenes Integrationsprojekt, kein Masterplan, den die von der UNESCO ausgezeichnete Schule umsetzt, sondern eine Not, die zur Tugend gemacht wurde. Vor einigen Jahren hatte das Fernsehen das unfreiwillige, aber dafür umso ehrgeizigere Vorhaben dieser Schule porträtiert. Im Büro von Renate Kammer hängt noch ein Bildausschnitt dieser Doku. Damals fragten die RedakteurInnen, ob so ein Projekt überhaupt gutgehen kann. Renate Kammer kann das bejahen: „Es wird immer besser. Das verpflichtende Vorschuljahr hat uns sehr geholfen.“ Bei der Deutschkenntnis, meint sie. Kammer steht auch in Kontakt mit den umliegenden Kindergärten und berät mit den dortigen Leiterinnen die frühzeitige Förderung ihrer späteren Schüler.
„Indianer und Tschetschenen“
„Zum Kinderfasching im Gasthof Schluderer ging Lutz als Sheriff“, liest der türkische Bub neben mir in der 3. Klasse vor. „Schlu- der-er“, liest er vor. Es ist nach 11 Uhr, die Kinder sind seit drei Stunden im Unterricht. Auch in einer frisch renovierten Schule ist es warm, der Kopf des Buben sinkt auf die Tischplatte. „Lutz als Sheriff“, liest er vor. Dieser Satz ermüdet auch mich. Vier türkische Burschen sitzen mit ihrer muttersprachlichen Lehrerin an einem Text über österreichische Faschingsbräuche, daneben sitzt die Lehrerin für Tschetschenisch mit einem Bub und einem Mädchen, das Mädchen liest: „Mit einem Indianer springe ich im Kreis.“ Die Lehrerin übersetzt „Indianer“ auf Tschetschenisch, die andere Lehrerin übersetzt „Kinderfasching“ auf Türkisch, sie übersetzt „Sheriff“ auf Türkisch, sie übersetzt „Krapfen“ und „Turnverein“ und „Kostüm“. Die Lehrerin für Tschetschenisch löst mit dem Bub Divisionen, auf Tschetschenisch Der Raum, in dem ich auf dem kleinen Stuhl sitze, in dem auch die Lehrerinnen auf den kleinen Stühlen sitzen, liegt zwischen zwei Klassenräumen. Hierher werden die Kinder aus der einen Klasse zum muttersprachlichen Unterricht geholt, hierher werden die Kinder aus der anderen Klasse geholt, die auch nicht so gut mitkommen, weil sie behindert sind. Eine Lehrerin liegt mit ihnen auf der Matte in der Ecke und liest eine Geschichte vor, die von einem Spital handelt: „Aus der Maske atmet sie seltsame Luft ein.“ Der Bub neben mir liest: „Wie ging Lutz zum Faschingsfest im Turnverein?“
Die meisten Klassen sehen aus wie in einer FIFA-Werbung für völkerverbindendes Fußballspiel, die Haare sind blond und braun und schwarz und zu Rastas geflochten, die Hautfarben so unterschiedlich wie die Augenformen, die Gespräche zwischen den serbischen Buben und den somalischen Mädchen so natürlich wie das gemeinsame Singen des rumänischen Adrian mit der kurdischen Marian. Was hier gefördert wird, ist auf den ersten Blick offensichtlich. Aber auch in einer Volksschule wie dieser gibt es die üblichen Probleme, nicht jeder Streit wird ausdiskutiert, nicht jedes Kind passt im Unterricht auf, nicht jede Mutter versteht sich mit jedem Lehrer. Und dann gibt es noch Ereignisse wie jenes im Jahr 2012, als die achtjährige Tschetschenin Madina statt in die Regenbogenvolksschule zum Flughafen gebracht werden sollte, um mit ihrer Familie abgeschoben zu werden. Renate Kammer kannte diese Praxis nur aus den Zeitungen, nun betraf sie eins ihrer Kinder: „Da wirst ins Flugzeug gesetzt, hingeflogen und dem Schicksal überlassen.“ Der Fall wurde öffentlich, die Proteste verhinderten eine Abschiebung. Madina war eine sehr gute Schülerin, erinnert sich Kammer, nach dem Vorfall aber nicht mehr, trotzdem konnte sie die Schule abschließen. Wie auch viele andere, von denen es etwa ein Drittel ins Gymnasium schafft. Ob das viel oder wenig ist, ob tatsächlich Chancengleichheit für ihre Kinder im Hinblick auf die zukünftige Ausbildung bestehe, mag Renate Kammer nicht beurteilen. Und kehrt zurück in den Alltag einer Schule, die von ihren LehrerInnen mehr fordert, als der Lehrplan vorsieht. „Aber“,so Kammer, „wir machen keinen Elefanten draus und binden kein Mascherl drum.“
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