Dann hat man immer noch einen Plan B
Nun sitzen sie hier fest, Aram und Joo, zwei Syrer in Bad Fischau. Sie haben als Schmied, Hotelmanager und Kommunikationschef gearbeitet und mit ihren Familien ein gutes Leben geführt. Aber der Krieg hat ihnen einen Strich durch die Rechnung gemacht. Reportage, Fotos: Sonja Dries
Als die Revolution in Syrien ausbrach, war Aram noch bei einigen der Demonstrationen mitgegangen. Wie viele andere Menschen hatte er das Gefühl, in Syrien in einer Diktatur zu leben. Zu Wahlen war er nie gegangen, das Ergebnis, sagt er, stand sowieso schon immer im Vorhinein fest. Als die Demonstrationen gewalttätig wurden, nahm sich der junge Mann politisch zurück. Heute ist das arabisch-sozialistische Land, das einen vergleichsweisen Wohlstand bot, ein Trümmerhaufen. Die Bilanz: fünf Jahre Krieg, die Terrorherrschaft des Islamischen Staates über Teile des Landes und mit Baschar al-Assad ein Diktator, der schon angezählt war und nun notgedrungen einer der Verhandlungspartner der internationalen Gemeinschaft ist. Wäre Syrien ohne Assad besser dran? „Es bringt nichts, alles auf die Regierung zu schieben. Die Leute müssen bei sich selbst mit der Veränderung beginnen“, sagt Aram, dem die Hoffnung auf Frieden nicht mehr ganz gelingen will. Dabei hatte er doch Pläne für sein Leben. Nach dem Abschluss der Highschool wollte er an der Universität in Damaskus Informatik studieren. Als das Militär ihn einziehen wollte und der Islamische Staat Kobane angriff, drängte Arams Vater seinen Sohn, das Land zu verlassen. Er ging in den Irak nach Arbil, war drei Monate lang ohne Arbeit und lebte auf der Straße, weil die Zustände im Flüchtlings-Camp unerträglich waren. Dann fand er einen Job als Schmied. Als er sich nach einiger Zeit nach Syrien durchschlug, war seine Familie bereits vertrieben. Was blieb, war die Flucht nach Europa.
Am Ende wollten sie noch seine Kleidung
Von der Türkei mit einem Schlauchboot nach Griechenland, sieben Tage im Camp auf Kos. Keine Elektrizität, keine Sicherheit, erinnert sich Aram mit geschlossenen Augen. Weiter von Athen nach Thessaloniki und zu Fuß durch Mazedonien und Serbien. Dort überfiel ihn eine Bande, nahm ihm sein letztes Geld und das Handy. „Sie wollten auch meine Kleidung. Als ich ihnen sagte, dass ich nichts mehr Sauberes habe, ließen sie locker.“ In Belgrad traf er einen Mann in einem Kaffeehaus, der ihm einen Transport nach Österreich anbot. In einem Kastenwagen schaffte er es bis nach Traiskirchen. Das war am 10. Juni 2015. Aram Kassem ist 21 Jahre alt, hat nackenlange schwarzbraune Haare und dunkelbraune Augen. Er trägt gern Mützen oder Baseball-Caps. In seiner Heimatstadt Kobane ging er in die Schule, nebenbei half er seinem Vater in dessen Schmiede. So lernte er das Handwerk. Damals, als er noch ein normales Leben hatte, mochte er Musik, ging auf Konzerte, spielte mit Freunden Fußball. Das Verhältnis zum Vater war gut. „Mein Vater wusste, dass ich rauche, ich durfte es nur niemals vor seinen Augen tun“, skizziert Aram eine Beziehung, die nicht streng, aber von Respekt geprägt war. Fragt man Aram, wie sein Leben damals in Syrien war, dann sagt er, dass es ein gutes Leben war.
Jwan Joo Daod ist 34 Jahre alt, hat schwarze, lockige Haare und ein ansteckendes Lächeln. Er wuchs im syrischen Amuda auf, an der Grenze zur Türkei und zum Irak. Dort lebte er gemeinsam mit seinen Eltern, zwei jüngeren Brüdern und zwei älteren Schwestern. Sein Vater betrieb ein Kleidergeschäft im Ort, seine Mutter kümmerte sich als Hausfrau um die Kinder. Schon mit acht Jahren begann Joo neben der Schule zu arbeiten. „Für unsere Kultur ist das normal. Man soll etwas lernen und arbeiten, denn wenn eines von beiden misslingt, hat man immer noch einen Plan B“, erklärt er. In seiner Freizeit spielte er Gitarre und gründete eine Band mit seinen Freunden. Sie spielten kurdische Musik, obwohl er selbst, wie er erzählt, klassische Musik der Romantik liebt. Er schrieb Gedichte in arabischer Sprache, las historische Bücher und spielte Volleyball. Nach der Schule ging Joo auf die Hotelfachschule in Aleppo, nebenbei arbeitete er als Küchenhilfe. Seine Freizeit sah aus wie die vieler Jugendlicher in Europa. Discos und Bars spielten eine Rolle, zumindest am Wochenende. Auf einer Party lernte er seine zukünftige Frau kennen. Weil er, behauptet er zumindest, der beste Tänzer war, sei er ihr sofort aufgefallen. Joo ist ein Scheidungskind, seine Eltern trennten sich, als er 17 war. Als ältester Sohn übernahm er die Verantwortung für seine Mutter und seine Geschwister. Ein knappes Jahr jobbte er im Libanon in einem Restaurant, danach ging es nach Dubai. Dort brachte er es, der ein Studium in Business Administration abgschlossen hat, bis zu einer führenden Position in einem 4-Sterne-Hotel. Eine Zeitlang arbeitete er auch als Kommunikationsleiter in einer Ersatzteilfirma für Autos. Seine Jobs gefielen Joo. Kontakt mit verschiedensten Nationalitäten, Englisch sprechen, das waren Jobs, die der ambitionierte Mann schätzte.
Am 19. Juni vergangenen Jahres kreuzten sich die Lebenswege von Aram und Joo in Österreich. Es war ein Freitag, als in einer Hauruck-Aktion 250 Flüchtlinge, ausschließlich Männer, aus dem völlig überlaufenen Lager in Traiskirchen nach Wiener Neustadt gebracht wurden. Unter ihnen auch die beiden jungen Männer. Als Joo Syrien 2011 verlassen hatte, um im Libanon und Dubai zu arbeiten, begannen die Unruhen in Syrien. Joo war auf der Seite der Rebellen. Wenn er über Assad redet, sieht man, wie der Zorn in ihm aufsteigt: „Assad behandelt Syrien wie seine Farm, und die Bewohner sind seine Arbeiter. Wenn sie ihn um Freiheit bitten, sagt er ihnen, dass er ihnen nur gibt, was er will, und wenn sie das nicht akzeptieren, müssen sie sterben“. Joo gibt Assad die Schuld für den blutigen Ausgang einer einst friedlichen Revolution. Für ihn zu kämpfen war keine Option. Für die Hochzeit besorgte sich seine Verlobte ein Visum und reiste nach Dubai. Sie lebten dort ein Jahr gemeinsam, dann wurde sie schwanger. Weil es ihr erstes Kind war, entschieden sie, dass Joos Frau für die Geburt zurück nach Syrien gehen sollte, um dort mit Unterstützung ihrer Verwandten das Kind zu bekommen. Danach, so der Plan, würden Mutter und Kind nach Dubai zurückkehren. Doch so weit sollte es nicht kommen. Joos Sohn, der heute knapp zwei Jahre alt ist, bekam keinen Pass ausgestellt. Die Regierung machte zur Bedingung, dass der Vater nach Syrien zurückkehrt und sich dem Militär anschließt. Joos Pass lief ab. Er konnte ihn weder verlängern noch ein neues Visum für seine Frau beantragen. Weil er unbedingt zurück zu seiner Familie wollte, kündigte er seinen Job, verkaufte sein Auto und alles, was er in Dubai besaß. Illegal reiste er über die Türkei nach Syrien. „Mein Sohn war damals acht Monate alt, als ich ihn das erste Mal in den Arm nehmen durfte“, erinnert sich Joo mit Wehmut. Er genoss es, Zeit mit ihm zu verbringen, doch sein Zuhause war für ihn zum Gefängnis geworden. „Wir lebten damals in Al-Hasaka, und Assads Truppen, das kurdische Militär und ISIS kämpften hier. Es war grausam, ich konnte mich nicht frei bewegen.“ Er entschied sich, zu fliehen. Für das Baby wäre die Reise viel zu gefährlich und anstrengend gewesen. 90 Stunden lang ging es über Berge und durch Flüsse in die Türkei. Die Grenze war bereits geschlossen. Schlepper brachten den Syrer in einem Lieferwagen nach Österreich. Fünf Tage mit Wasser und ein paar Datteln. Österreich war Joos erklärtes Ziel. „Ich hatte schon viel über die österreichische Geschichte gelesen und dass dieses Land sich immer um die Ausbildung und Arbeit seiner Bürger gekümmert hatte.“ In das Land von Sigmund Freud, Johann Strauß und Mozart, wie Joo die ihm geläufigen Kulturvertreter aufzählt, wollte er gehen, um die Familie dann nachzuholen. In der Arena Nova in Wiener Neustadt war dann vorläufig Endstation.
Würde die Hand ins Feuer legen
Schon kurz nachdem die Flüchtlinge in die Veranstaltungshalle eingezogen waren, organisierten sich viele Freiwillige aus der Umgebung, um zu helfen. Darunter auch die Bad Fischauerin Heidi Baek, die beruflich in ihrem Geschäft Möbel tapeziert und Restaurierungs-Workshops abhält. Gemeinsam mit anderen Menschen aus dem Ort organisierte sie Ausflüge, Picknicks, Fußballspiele oder einen Besuch im Bad Fischauer Thermalbad. Die Initiative setzte mithilfe des Bürgermeisters durch, dass 11 syrische Männer in die Räumlichkeiten der alten Gendarmerie einziehen konnten. „Innerhalb von zwei Tagen haben wir das Gebäude bewohnbar gemacht, und von den Betten über das Geschirr bis zu Grünpflanzen und Kerzerln war alles da“, erzählt Baek. Heute erinnert kaum mehr etwas an den vorherigen Zweck der Wohnung. Nur eine Zelle mit einer Tür aus Gitterstäben ist geblieben. Auch Joo sollte ursprünglich in die WG einziehen, als ihm ein Ehepaar aus Piesting anbot, bei ihnen zu wohnen. „Für mich war es unglaublich, dass sie mit mir zusammenleben wollten, obwohl sie mich gar nicht kannten“, zeigt sich der junge Mann gerührt. Heute sind sie für ihn zu seiner zweiten Familie geworden.
Mittlerweile haben fast alle syrischen Männer in Bad Fischau einen positiven Bescheid bekommen. Aram am 10. November, wie er gleich in seinem Pass herzeigt. Mittlerweile ist er in eine eigene Wohnung gezogen. „Allein für Kaution und Provision brauchen die Männer dann schon mal mehrere tausend Euro“, beschreibt Heidi Baek, die vor Kurzem selbst einen syrischen Mann und seinen zehnjährigen Sohn bei sich zu Hause aufgenommen hat, die Probleme bei der Wohnungssuche. Sehr hilfreich seien aber gute Deutschkenntnisse. Gerade hier hatte Baek am Anfang die Motivation bei einigen vermisst. Ihnen schien die Bedeutung nicht bewusst, oder sie waren noch zu sehr von den Strapazen gezeichnet, um Neues aufzunehmen. Heute besuchen alle Syrer in Bad Fischau regelmäßig einen Deutschkurs, auch Aram und Joo. Das Sprechen funktioniert schon gut, doch um ihre Erlebnisse genau zu schildern, ist der Wortschatz noch zu klein, und sie bleiben beim Englisch. Neben der anfänglichen Unlust, Deutsch zu lernen, hat Heidi Baek eigentlich nur die Unpünktlichkeit geärgert: „Wenn man sich zwei Uhr ausmacht, ist drei Uhr schon super." Insgesamt beschreibt sie ihre Erfahrungen in den letzten Monaten jedoch als sehr erfüllend und bereichernd. Es seien Freundschaften entstanden, die nicht mehr auf der Ebene Helferin und Flüchtling stattfinden. Auch im Ort hat sie nun Kontakt mit Leuten, die sie vorher gar nicht gekannt hat. Die positiven Erlebnisse erhielten durch die Ereignisse rund um Silvester allerdings einen bitteren Beigeschmack. Für die syrischen Männer, die sie betreut, würde sie jedoch ihre Hand ins Feuer legen. „Bevor ich das erste Mal in der Arena Nova war hatte ich noch Bedenken, ob ich als Frau allein da rausfahren sollte“, gesteht sie. Nach den ersten Treffen sei die Skepsis aber völlig verschwunden. Auch ihre drei Töchter im Teenageralter unternehmen immer wieder etwas mit den syrischen Flüchtlingen. Baek hätte das nicht erlaubt, wenn sie das Gefühl gehabt hätte, dass da etwas passieren kann. Auf die Silvesternacht in Köln angesprochen, meint Aram: „Es ist schrecklich. Ich schäme mich, aber ich kann es nicht ändern. Auch in unserem Land sind solche Dinge verboten. Was denken diese Leute? Wir befinden uns doch im 21. Jahrhundert.“
Der Punkt an dem man flieht
Fragt man Joo und Aram, wie sie sich ihr Leben in fünf Jahren vorstellen, schweigen sie erst mal. Am liebsten wären sie wieder in Syrien, um ihr Leben neu zu beginnen und ihre Heimat aufzubauen. Doch die Hoffnung wird immer kleiner. Das Leben in Österreich ist von Ungewissheit geprägt. Rauchen, aufs Handy schauen, fünfmal die Woche geht es in den Deutschkurs. Irgendwann sollte die Familie nach Österreich kommen dürfen. Mit den Eltern und Geschwistern gibt es sporadisch Kontakt. Sie, die selbst vertrieben wurden, haben nur manchmal Zugang zum Internet. Als er seinen positiven Asylbescheid bekam, sagte ihm der Richter, dass er die Regeln respektieren, einen Job finden und seine Zukunft aufbauen solle. Genau das hat er vor. Er und einige andere Syrer aus Bad Fischau haben sich bei der Tischlereifirma List beworben. Demnächst ist der erste Probetag. Außerdem würde Aram gern studieren. Joo arbeitet derzeit als Koch in einem Restaurant in Wien, das als Hilfsprojekt fünfmal die Woche syrische Speisen anbietet. Für die Zeit danach hat er schon Jobangebote. Bereits jetzt hat Joo ein Haus in Markt Piesting gemietet, in dem er mit seiner Familie wohnen will. Seine Frau und sein Sohn stecken derzeit noch im Libanon, sie haben um Nachzug angesucht. Joo freut sich darauf, wenn er ihnen die Ruhe und Schönheit des Ortes zeigen kann. Als er vor seiner Flucht nochmal in Syrien war, hatte er Kinder getroffen, die bei Schüssen und Explosionen die Waffengattung zuordnen konnten. War es eine Kalaschnikow oder ein DschK, mit dem gerade gefeuert wurde? Schoss gerade eine Mig 23 oder eine Mig 35 über ihre Köpfe hinweg? „Ich will nicht, dass mir meine Kinder irgendwann so etwas erzählen. Ich will, dass sie mir erzählen, was sie heute in der Schule gelernt oder was sie gespielt haben“, sagt Joo und erhebt dabei das erste Mal seine Stimme. „Es ist ein Unterschied, ob man vom Krieg hört oder ob man dort ist. Man fragt sich, wofür man hier kämpft, für wen man sein Leben verliert, für wen die eigenen Kinder das Leben verlieren. Das ist der Punkt, wo man sagt: Nein, ich werde mein Leben nicht verlieren, und ich lasse es nicht zu, dass meine Kinder mich eines Tages fragen, warum ich sie nicht zu einem sicheren Ort gebracht habe. Warum ich ihnen nicht die Chance für ein besseres Leben gegeben habe. Das ist der Punkt, an dem man flieht.“
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