Die Grenzkrise
SONDERECKE. Österreich hat die Krise, weil Asyl nicht europäisiert wurde. um die Ecke gedacht mit Philipp Sonderegger
In Spielfeld überrennen Ausländer die Grenze. Soldaten des Bundesheeres mit roten Warnwesten breiten hilflos die Arme aus. Vergebens, hunderte Flüchtlinge strömen seitlich an ihnen vorbei. Das macht den Österreicher fertig. Tagelang ringt das Land um Fassung. Da missachten Fremde den Befehl von Heer und Polizei und werden nicht sogleich bezwangsmaßnahmt? ES GEHT UM UNSER LAND! UM UNSERE GRENZEN! (Ein Krone-Redakteur analysiert die Lage auf Twitter, Kapitale im Original).
Österreich hat die Grenz-Krise. Das Ausmaß der Verstörung ist dem jähen Ende einer Selbsttäuschung geschuldet. In einem integrierten Europa – einem gemeinsamen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – sind Österreichs Grenzübergänge obsolet. Die Binnengrenzen wurden dem freien Verkehr geopfert. Weder Drittstaatsangehörige, noch Flüchtlinge, die einen Asylantrag stellen wollen und schon gar nicht das Kapital sind verpflichtet an österreichischen Grenzbalken Halt zu machen. Nun, da das europäische Asylregime kollabiert ist, tritt diese Erkenntnis kaum übersehbar zu Tage.
Der Zusammenbruch des Asylwesens in Europa kam, weil seine Europäisierung im Konflikt mit nationalen Befindlichkeiten auf halbem Wege stecken blieb. Das Alte wurde verabschiedet, doch das Neue ist noch nicht da. Wenn die Binnengrenzen fallen, dann muss die Rezeption für Flüchtlinge an der EU-Außengrenze stehen – soweit der nachvollziehbare Gedanke der Dublin-Verordnung: Dort wo ein Flüchtling zum ersten Mal europäischen Boden betritt, soll auch die Registrierung und das Verfahren stattfinden. Eine Vereinheitlichung der Standards, wie 1999 in Tampere geplant, darauf wollten sich die nationalen Schrebergärtner dann doch nicht einlassen. Deshalb gibt es in Europa sehr unterschiedliche Standards. Mit der weiteren Konsequenz, dass die Mitgliedstaaten in einen Wettbewerb der Verschlechterung eingetreten sind. Wenn es den Flüchtlingen in anderen Ländern besser ergeht, dann ziehen sie ohnehin weiter. Nur Angela Merkel scheint die Sprengkraft dieser Logik zu begreifen und die Kraft aufzubringen, ihr etwas entgegen zu halten.
Als der Europäische Gerichtshof nicht mehr mitspielte und Griechenland sowie partiell Italien und Ungarn zum unsicheren Land für Flüchtlinge erklärte, kam tatsächlich das Ende. Flüchtlinge sind angehalten, offizielle Grenzübertrittstellen in die EU zu nutzen und sich dort fürs Asylverfahren registrieren zu lassen. Doch es gibt keinen Plan B. Wenn ein Land keine Registrierung vornimmt, sind die Flüchtlinge frei in ihrer Entscheidung, wo in Europa sie ihren Antrag einbringen. Die saubere Lösung liegt auf der Hand. Ein europäisches Asylverfahren, das allen viel Geld, Ärger und Menschenrechtsverletzungen erspart.
Philipp Sonderegger ist Menschenrechtler, lebt in Wien und bloggt auf phsblog.at
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