„Deine Flüchtlinge sind anders“
Ich nehme die Flüchtlinge, die ich betreue, so wie sie sind. Ich zeige ihnen, was alles möglich ist. Ohne Tabus. Kommentar: Tatjana Petrovic
„Deine Flüchtlinge sind ganz anders“, höre ich oft, „wie machst du das?“ „Wie, anders?“, frage ich zurück. „So modern und aktiv, die starten selbst viele Aktionen, machen Radio, nehmen an Workshops von KinoCunTra teil, haben viele österreichische Freunde, einige sprechen sehr gut Deutsch nach nur 10 Monaten.“ Okay, wie mache ich das und was mache ich konkret?
1. Du bist authentisch in dem, was du machst und du machst es gerne. Alles andere funktioniert nicht.
2. Du ZEIGST (ich meine nicht, Du SAGST) in welche Welt die Menschen gerade gekommen
sind, eine Welt, die frei ist, die Möglichkeiten bietet, die niemanden ausschließt. Wo Menschen helfen und an dir Interesse haben, wo du sein darfst, wie du bist und wo andere sein dürfen, wie sie sind.
3. Du bringst diese Menschen in Kontakt mit anderen Menschen. Mit Menschen, die offen sind, kreativ, die dir menschlich begegnen.
4. Du lässt den Menschen ein bisschen Zeit. Es treffen viele neue Situationen und Werte auf sie, vieles, was sie von Zuhause nicht kennen (es gibt enge Freundschaften zwischen Mann und Frau, es gibt schwule und lesbische Menschen, es gibt Sex vor der Ehe, es gibt Scheidung). Und all das darf sein. Eben weil die Menschen Freiheiten haben.
5. Du kritisierst nicht das, was sie machen und wie sie leben. Du sagst deine Meinung dazu, du diskutierst, du beantwortest alle Fragen, aber du kritisierst nicht – du bist, wie du bist.
Also, was mache ich nun konkret: ich lade meine Freunde ein, das Haus MIGRA zu besuchen, in dem die Flüchtlinge leben. Es sind Freunde die schwul und lesbisch sind, Frauen die frei sind, Musiker, Filmemacher, Künstler. Ich gehe mit den Flüchtlingen zum Schwarzlsee baden und am Strand gehe ich zufällig über den FKK Bereich und unterhalte mich dort mit nackten Menschen, Frauen und Männern.
Ich lasse die Migranten im CunTra helfen und da sein, damit sie Kontakte knüpfen, damit sie kreative Menschen treffen und Deutsch lernen. CunTra ist ein von mir geleitetes Kunst- und Kulturcafe in Graz, wo Offenheit gelebt wird. Das macht neugierig, man findet schnell Gefallen an der Offenheit. Sehr vieles regelt sich dann von selbst. Migration kennt keine Grenzen, Kunst kennt keine Grenzen. Politik und Religion schon. Ich sage immer: Meine Religion ist Kunst, Bildung und Kultur, und deswegen ist CunTra ein Land für sich selbst. Vielleicht sollte ich darum ansuchen, dass CunTra den Status als eigenes Land erhält, ein solches Land könnte einiges verändern.
Ich bin für alle Fragen offen und ich rede über alles ohne Vorurteile. So etwas wie Tabuthemen gibt es für mich nicht. Wir reden über Sex, über Freundschaften, über Ehe, über Islam, über ISIS, über Politik. Und ich lebe mein Leben so, wie ich es für richtig halte und wer mich kennt, weiß, dass das kein gewöhnliches „frauentypisches“ Leben ist. Auch damit wurden meine jungen arabischen Männer konfrontiert. Ich bin mir ziemlich sicher, dass deren Frauen anders leben.
Ich bin stolz auf „meine Flüchtlinge“. Einer von ihnen schreibt jetzt ein sehr kritisches Buch. Charlie Hebdo hat schon Interesse angekündigt und es wird wahrscheinlich in Schweden veröffentlicht. Zwei andere machen mit mir und ein paar großartigen Künstlern ein Projekt („Briefe aus dem Jenseits“ mit Sandy Lopicic und Darrel Toulon, Mario Tomic und Yannik Renllekniets). Ein anderer Flüchtling startet mit seinem eigenen Geschäft. Und fast alle wollen fertig studieren. Und ich bin auch ein bisschen stolz auf mich – weil ich diese Leute so nehme, wie sie sind und ihnen NUR zu zeigen versuche, was alles möglich ist.
ZUR PERSON
Tatjana Petrovic
Tatjana Petrovic stammt aus Slavonski Brod, einer Stadt zwischen Bosnien und Kroatien. Sie kam 1992 mit ihrem Mann und ihrem Sohn nach Österreich. Sie ist Designerin, Coach, Verhaltens- und Hypno-Therapeutin. Seit 2012 leitet sie das Kunst- und Kulturcafe „CunTra – la Kunsthure“. Petrovic betreut zurzeit 16 männliche Flüchtlinge in Graz.
Unterstützen Sie jetzt unabhängigen Menschenrechtsjournalismus mit einem MO-Magazin-Solidaritäts-Abo