Aufklärung statt Ausgrenzung
600 Workshops für De-Radikalisierung hat das Bildungsministerium finanziert. Wir haben nachgefragt, wie solche Kurse ablaufen und was sie bringen. Text: Sonja Dries
Ich möchte meine weltlichen Ziele mit dem Ziel verknüpfen, Gottes Wohlgefallen zu erlangen.“ Als ein 15-jähriger Schüler in Wien diese Antwort auf die Frage nach seinem Lebensziel gibt, ist das für seine Lehrerin ein eindeutiges Radikalisierungssignal. Sie macht den Schüler vor der ganzen Klasse so herunter, dass er eingeschüchtert und weinend nach Hause läuft. Diesen Vorfall nennt Rami Ali ein Paradebeispiel dafür, wie man mit dem Thema Religion und speziell Islam nicht umgehen sollte. Ali ist Teil des Netzwerks sozialer Zusammenhalt (derad), einer NGO, die seit über einem Jahr so genannte De-Radikalisierungsarbeit leistet. In diesem Fall konnte derad im Dialog mit der Schule die Lage deeskalieren. Ein Grund für solche Überreaktionen mag der Aufruf von Bildungsministerin Gabriele Heinisch-Hosek vom September 2014 sein, „begründete Verdachtsfälle“ im Zusammenhang mit Jihadismus zu melden. Gemeinsam mit der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich wurde eine Broschüre mit 12 Fragen zu Radikalisierung und Extremismus herausgegeben, die Merkmale beschreibt, die auf ein gefährliches Abdriften hinweisen können. Die richtige Einordnung dieser Merkmale bleibt den LehrerInnen überlassen, das öffnete laut Kritikern die Türe für Pauschalverdächtigungen. Peter Stöger, Professor für Erziehungswissenschaften am Hochschullehrgang der IRPA (Islamische Religionspädagogische Akademie in Wien) kritisiert, dass Verhaltensauffälligkeiten von Jugendlichen, die auf normale autoritäre Konflikte in der Pubertät zurückzuführen sind, bei MuslimInnen oft mit Radikalisierungstendenzen gleichgesetzt werden. Viele LehrerInnen würden über das Ziel hinausschießen, wenn muslimische Schüler ein arabisches Wort verwenden, eine Schülerin plötzlich Kopftuch trägt oder die Kinder beginnen, fünf Mal am Tag zu beten. „Das bedeutet noch lange kein Abrutschen in den Jihadismus, sondern ist einfach eine normale religiöse Entwicklung“, sagt der 69-jährige Stöger. Verurteilt man Kinder deswegen, müsste man auch ein Kind, das „Grüß Gott“ sagt, als christlichen Fundamentalisten einordnen. Bereits 2014 hatte Stöger gemeinsam mit der Wirtschaftspädagogin und Vorsitzenden der Muslimischen Jugend Österreich (MJÖ), Dudu Kücükgöl, einen offenen Brief gegen Hysterie im Umgang mit Muslimen veröffentlicht, den bereits 2.500 Personen unterschieben haben. Sie hoffen, damit mehr Sensibilität im Umgang mit dem Islam zu erreichen.
Das Bildungsministerium hat indes die Initiative „Bildung für De-Radikalisierung“ gestartet. In einem Erlass vom 15. Februar wurden 300 Workshops für Schulen vereinbart. Interessierte konnten sich beim Zentrum polis, der pädagogischen Serviceeinrichtung zur Politischen Bildung, anmelden, die Kosten wurden direkt vom Ministerium übernommen. Aufgrund der hohen Nachfrage verdoppelte das Ministerium die Anzahl der Workshops, Kosten: 300.000 Euro. Da 600 Workshops für 30.000 österreichische Klassen den Bedarf aber bei weitem nicht decken, sind alle Kurse ausgebucht. Weitere Kurse vergibt polis nicht mehr. Abgehalten haben die Workshops NGOs wie das Österreichische Jugendrotkreuz, Pro mente, die Muslimische Jugend Österreich oder eben derad, bei der auch Rami Ali tätig ist. Ali, ein Muslim und Sohn ägyptischer Einwanderer, hat Politikwissenschaft studiert und beschäftigt sich bereits sein ganzes Leben mit dem Islam. Dass er keine pädagogische Ausbildung hat, sieht er nicht als Problem. Wie aber begegnen ihm die SchülerInnen, können sie mit seinen Themen etwas anfangen? Rami erzählt, dass die LehrerInnen oft überrascht sind, wie aktiv die Kinder mitarbeiten. Wenn man mit Ali spricht, kann man sich vorstellen, dass er Schulkinder für seine Fragen begeistern kann. Der junge Mann mit den kurzen dunklen Haaren, den fröhlichen Augen und seinem gewinnenden Lachen vermag auf lockere Art Aufmerksamkeit zu generieren. Ali und sein Kollege Salih Seferovic, mit dem er die Workshops meistens gemeinsam hält, bemühen sich, die Kinder miteinzubeziehen, auch wenn die Kurse großteils frontal ablaufen. Titel der derad-Veranstaltung: „Politischer Extremismus, Salafismus und Dschihadismus, Ausgrenzung von Menschengruppen“. Gebucht wird Ali, wenn LehrerInnen Verdachtsmomente hegen oder einfach nur als Präventivmaßnahme. Dann werden zwei Stunden lang radikale Ideologien wie etwa die des Islamischen Staates besprochen. Erörtert wird auch das Konzept des „Othering“, also der Abgrenzungsstrategie einer Gruppe von den Anderen, wie sie der IS und auch rechtsradikale Gruppen wie die Identitären verwenden. Aber auch das Bild, das westliche Medien vom Islam zeichnen, wird kritisch hinterfragt.
Reflexion auslösen
Um den SchülerInnen zu verdeutlichen, auf welche Weise Bilder manipulativ eingesetzt werden, zeigt er ihnen das Bild einer Exekutionsszene des IS, kurz bevor es zur Tötung kommt. Der IS demonstriert damit seine Macht und verbreitet Angst und Schrecken. Wie mit diesem Bild Politik gemacht wird, zeigt Ali anhand der Identitären. Sie haben die Szene am Stephansplatz mit einem Plastikmesser nachgestellt, um auf verhetzende Weise zu demonstrieren, wie gewalttätig der Islam als Religion sei. Dass Bilder nie für sich, sondern immer nur in einem Kontext verstanden werden können, ist eine grundsätzliche Erkenntnis. Für die aktuelle Islam-Diskussion gilt sie im Besonderen. Medienkompetenz ist ein wichtiges Element in Alis Kursen. Was fällt den Kindern zum Begriff Islam ein? Wenn er sie die Augen schließen und spontan brainstormen lässt, kommen, so Ali, „meist Begriffe wie Gewalt, Verschleierung, Bärte, böse Männer oder Blut. Ich zeige den Schülern danach 12 Cover verschiedener Zeitschriften und Magazine, die genau diese negative Konnotation wiedergeben.“ Wie sehr die Wahrnehmung der Jugendlichen durch die Darstellung des Islam in den Medien geprägt ist, sorgt dann jedes Mal für Verblüffung. Am Ende eines Workshops dürfen die Jugendlichen alle offenen Fragen loswerden. Das ist der Moment, in dem eine mögliche Tendenz zur Radikalisierung erkannt und entschärft werden soll.
Theologisch entschärfen
An ein Mädchen in Innsbruck erinnert sich Ali besonders gut. Die Schülerin hatte der Lehrerin Sorgen bereitet, weil sie sich „komisch“ benahm, neuerdings ein Kopftuch trug und auffällig ruhig wurde. „Auch, wenn das Tragen eines Kopftuches definitiv kein Indikator für eine Radikalisierung ist, fiel mir im Workshop auf, dass das Mädchen eine starke Ablehnung von Demokratie zeigte und die Frage bejahte, ob ausschließlich Gottes Gesetz herrschen sollte. Dieses Verhalten war für mich ein Warnsignal und ich suchte nach dem Workshop das Gespräch“ beschreibt Ali seinen Eindruck. Rasch zeigte sich, dass die Schülerin zwar zahlreiche Strophen des Koran auswendig konnte, aber jegliches theologisches Fundament fehlte, um ihre Ansichten zu argumentieren und zu reflektieren. Ali erklärte dem Mädchen den Kontext, in dem die Suren dem Propheten Mohammed offenbart wurden und konnte ihre Argumente schnell theologisch entschärfen.
Für Peter Stöger, der selbst 13 Jahre Lehrer an Tiroler Pflichtschulen war, ist diese Diskussion mit dem Kind über die Religion auf jeden Fall sinnvoll. Doch wichtiger als die religiöse Debatte sei es, den wahren Grund zu finden, warum Jugendliche sich radikalisieren. Der Wortstamm von Radikalisierung – radix bedeutet Wurzel – würde bereits hindeuten, worum es geht. Gerade in der Pubertät seien Jugendliche auf der Suche nach Wurzeln, nach Vorbildern, die ihnen quasi die „Vitamine des Lebens“, so Stöger, vermitteln. Wenn sie von Familie und Umfeld keine Zuneigung bekommen oder nur eine Wohlstandsabspeisung in Form von Spielzeug oder Wertgegenständen, könne es sein, dass sie die Wurzeln an vergifteten Orten suchen. Dann hätten „Seelenfänger“ leichtes Spiel. Workshops wie jene von derad beurteilt Stöger positiv. Aber ein Kind sei sicherlich gefährdet, „wenn dem Leben das Zentrum fehlt, die Zuneigung in der Familie oder der Respekt seitens der Lehrpersonen.“ Stöger erinnert sich auch an die eigene Kindheit, wenn er anfügt: „Der Mensch braucht lebensbejahende Inhalte, egal, ob man musiziert, auf den Berg geht oder Gott verehrt.“
Hysterie als Nährboden
Wie aber sieht die Realität aus? Mit wie vielen Fällen, in denen ein Verdacht berechtigt war, hat derad überhaupt zu tun? Rami Ali sagt, dass das selten der Fall sei. 80 Prozent der Workshops finden allein aus präventiven Gründen statt. Vor Hysterie warnt er. Das ist auch deshalb interessant, weil Ali nebenbei am Institut für Islamische Studien der Uni Wien arbeitet, dessen Vorstand Ednan Aslan von der muslimischen Community in Österreich mehrfach wegen einer Hysterisierung im Umgang mit der Religion kritisiert wurde. „Ich habe einige Differenzen mit Aslan und bin nicht immer seiner Meinung, aber das weiß er vermutlich auch“, sagt Ali. Man dürfe den Koran nicht als Nachschlagewerk verstehen, sondern als Gesamtbotschaft, deren Einzelteile zu bestimmten Kontexten offenbart wurden. Ali sieht eine Gemeinsamkeit von radikalen Islamisten und Islamhassern, die sich genau die Versatzstücke herauspicken, die in ihr eigenes Weltbild passen und den Islam als gewaltverherrlichende Religion erscheinen lassen.
Dass eine Spaltung von Muslimen und Nicht-Muslimen in unserer Gesellschaft stattfindet, spiegelt sich auch im ZARA-Rassismus-Report für das Jahr 2014 wieder. Im zweiten Halbjahr verzeichnete man einen signifikanten Anstieg rassistischer Übergriffe gegen Personen muslimischen Glaubens: ein klare zeitliche Überschneidung mit der medialen und politischen Debatte rund um die Terrororganisation IS. Genau dieser Umgang mit muslimischen Menschen bereite laut Rami Ali den radikalisierungsreifen Boden in Österreich auf: „Wenn ich dich rekrutieren will und dir sage, die anderen wollen dich nicht, die hetzen gegen dich, schau wie sie über dich berichten – und du gehst dann hinaus in die Welt und findest stattdessen freundliche Menschen, die dich annehmen wie du bist, dann wirst du an meinen Worten zweifeln. Aber wenn du rausgehst und auf der Straße ein Plakat mit „Daham statt Islam“ siehst, wenn du in der Schule und auf offener Straße diskriminiert wirst, dann bin ich als Rekrutierer plötzlich im Recht.“
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