
Angekommen. Was nun?
Bis Mitte November haben in Österreich ca. 70.000 um Asyl angesucht. Nicht jede/r wird einen positiven Bescheid erhalten. Welche Maßnahmen muss die Politik nun in Bereichen wie Arbeit, Bildung oder Wohnen setzen? Wir haben ExpertInnen um ihre Einschätzung gebeten.
AirBnB für Flüchtlinge Kilian Kleinschmidt | Krisenmanager und Entwicklungshelfer, Innovation & Planning Agency, Wien |
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Vorerst kein Verdrängungseffekt Johannes Kopf | Vorstand des Arbeitsmarktservice (AMS) |
Ende September waren bei uns rund 19.000 jobsuchende Asylberechtigte (bzw. subsidiär Schutzberechtigte) gemeldet, davon allein 13.000 in Wien. Die meisten von ihnen stammen aus Syrien, Afghanistan, Russland, Iran und Irak. Die Voraussetzungen, die Flüchtlinge dabei mitbringen, sind sehr unterschiedlich. Zu uns geflohen sind Menschen jeder Qualifikationsstufe, von hoch spezialisierten Ärzten oder Technikern bis Personen, die nur einzelne Jahre ihres Lebens überhaupt eine Schule besucht haben. Dazu kommt, dass unser Bildungssystem aber auch unser Arbeitsmarkt berufliche Qualifikation anhand von formalen Abschlüssen und Zeugnissen beurteilt – eine Formalisierung, die in vielen Staaten der Erde nicht üblich ist. Viel wird in diesen Tagen über die Qualifikation der zu uns fliehenden Menschen diskutiert. Daten dazu hat bisher nur das AMS und auch unsere Daten sind nicht von hoher Qualität. Oftmals verhindern Sprachschwierigkeiten eine Feststellung. Um individuell bestmöglich zu unterstützen, haben wir im AMS Wien vor etwa 8 Wochen Kompetenzchecks – erstmals für 1.000 Personen – zur beruflichen Integration von Asylberechtigten ins Leben gerufen. Ziel ist es, dabei in der jeweiligen Muttersprache (aktuell in Farsi, Arabisch, Russisch und Französisch) möglichst genau zu klären, welche Qualifikationen und Kompetenzen die Menschen mitbringen, unser Ausbildungssystem im Groben zu vermitteln und bei der Anerkennung der Qualifikationen zu unterstützen. Darüber hinaus werden Fähigkeiten auch in praktischen Tagen erprobt und individueller Schulungsbedarf definiert. Dieser erste Pilot läuft noch bis Anfang Dezember, danach werden wir der Öffentlichkeit eine validere Aussage bieten können. In unseren Integrations- und Qualifizierungsbemühungen achten wir speziell darauf, in welchen Bereichen und Regionen Arbeitskräftebedarf besteht bzw. ein solcher schon derzeit nur mit ausländischen Arbeitskräften gedeckt werden kann. Zahlreiche Unternehmen haben sich bei uns schon gemeldet, die einen Beitrag – z.B. Lehrstellenangebote für jugendliche Flüchtlinge – leisten wollen. Absolut unverzichtbare Voraussetzung für eine erfolgreiche Eingliederung in den Arbeitsmarkt sind jedenfalls ausreichende Deutschkenntnisse. Schon jetzt bietet das AMS anerkannten Flüchtlingen flächendeckend Deutschkurse an. Darüber hinaus setzen wir uns in politischen Verhandlungen intensiv dafür ein, dass mit der Sprachförderung von Seiten der öffentlichen Hand in Zukunft früher und zwar noch während des Asylverfahrens begonnen wird. Die Kompetenzerhebung ist nur ein erster Schritt. In den meisten Fällen wird eine fachliche Qualifizierung, Beratung und fallweise Beschäftigungsförderung notwendig sein. Wir haben dazu einen ersten Maßnahmenplan entworfen, der Grundlage für das von der Regierung beschlossene Sonderbudget von 70 Mio. Euro im nächsten Jahr war. Zeitarbeit, Gastgewerbe, Handel, Gesundheit und Bau sind die fünf wichtigsten Branchen, in denen anerkannte Flüchtlinge in den letzten Jahren Beschäftigung gefunden haben. Ein Verdrängungseffekt am Arbeitsmarkt ist wegen der geringen Sprachkenntnisse und der oft auch geringen Qualifikation während der ersten Jahre eher nicht zu erwarten. |
Anders als in Deutschland Markus Marterbauer | Leiter der Wirtschaftswissenschaft in der AK Wien |
Die Ansatzpunkte liegen auf der Hand. Das Wachstum der Bevölkerung, vor allem in den Ballungszentren, verlangt nach besserer öffentlicher Infrastruktur, besonders im sozialen Wohnbau und im öffentlichen Verkehr. Das bringt auch viele neue Jobs. In der Pflege älterer Menschen, der Sozialarbeit, in Kindergärten, Schulen und bei Qualifizierung und Weiterbildung gibt es hohen Bedarf an zusätzlichen Leistungen. Innovative Formen der Verkürzung der Arbeitszeit sind für die Wohlfahrt der Beschäftigten wichtig und schaffen nebenbei auch mehr Jobs Die wichtigste Hürde liegt im Bereich der Finanzierung. Die Herausforderungen der kriegsbedingten Fluchtbewegungen dürfen nicht durch Kürzungen von Sozialleistungen finanziert werden. Für die unmittelbaren Flüchtlingskosten sollten zusätzliche Kredite aufgenommen werden: Die Zinskosten liegen nahe null, die Europäische Kommission akzeptiert höhere Defizite aus diesem Titel und wenn die Integration gelingt, trägt sich wenigstens ein Teil der Kosten von selbst. Den Ausbau der öffentlichen Infrastruktur finanziert man ökonomisch am besten über langfristige Kredite, weil ja auch die Infrastruktur selbst über viele Jahrzehnte genutzt werden kann; hier gilt es mehr Flexibilität in den EU-Budgetregeln zu schaffen. Verbesserungen im Bereich der sozialen Dienstleistungen sollten etwa durch die Umlenkung von Förderungen in den Ausbau von Kindergärten und Ganztagsschulen erfolgen, die Einführung einer Erbschaftssteuer zur Finanzierung des Pflegesystems liegt ohnehin auf der Hand und in der Bekämpfung der Steuerhinterziehung von Multis und Superreichen sind noch viele Milliarden Euro zu holen. |
Mobilitätsbeschränkung nachteilig Josef Kohlbacher | Stv. Direktor des Instituts für Stadt- und Regionalforschung Österreichische Akademie der Wissenschaften |
Des Weiteren sind Maßnahmen zu entwickeln, die die Qualifikationen und Kompetenzen von Flüchtlingen nutzen bzw. erhöhen. Vor allem im ersten Jahr haben auch Deutschintensivkurse Vorrang. Es müssen die Potenziale junger Asylwerber genutzt und ihnen qualifizierende Ausbildungswege geöffnet werden. Die Anerkennung von in den Herkunftsländern erworbenen Berufsabschlüssen und notwendige Nachqualifizierungen sind weitere Aufgaben. Auch ein Umzug aus Flüchtlingsunterkünften in Wohnungen kann helfen, über persönliche Kontakte vor Ort Arbeits- und Ausbildungschancen zu vermitteln. Die Mobilitätsbeschränkung der Flüchtlinge durch das offizielle Zuteilungssystem ist nachteilig. Damit können Arbeitsuchende und -anbieter, etwa in der Branche Gastronomie und Fremdenverkehr, in der viele offene Stellen vorhanden sind, seltener zueinander finden. Es bestehen Aufnahmekapazitäten auf dem Arbeitsmarkt, vor allem in bestimmten Regionen und Sektoren. Deutschland hat positive Initiativen gesetzt, zum Beispiel das Modellprojekt „Integration durch Arbeit“ der Bundesagentur für Arbeit. Es richtet sich an Asylbewerber, die mit hoher Wahrscheinlichkeit in Deutschland bleiben dürfen und Berufsausbildung oder Studium abgeschlossen haben. 26 Personen nehmen in München an dem Projekt teil, 79 in Nürnberg, Augsburg und Regensburg. Dabei wird der Weg zur Integration für Flüchtlinge auch oder vor allem über Betriebspraktika eingeschlagen. Allerdings zeigt das Projekt in München, dass es für beide Seiten auch ein mühsamer Lernprozess ist, Flüchtlinge in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Etliche müssen erst die lateinische Schrift erlernen, um überhaupt am Deutschkurs teilnehmen zu können. Es liegt also vor allem an der Konzipierung maßgeschneiderter Angebote und deren intelligenter Umsetzung, ob die Arbeitsmarktintegration gelingt. In Österreich sind die Initiative „PROSA – Projekt Schule für Alle“, die das Nachholen von Schulabschlüssen ermöglicht, sowie das geplante Kolleg der Stadt Wien für jugendliche Flüchtlinge wertvolle Ansätze. Man darf nicht vergessen: Die österreichische Volkswirtschaft wird auch von den neuen Impulsen profitieren. Zuwanderer benötigen Arbeit zum Aufbau einer Existenz. Damit wird die Konsuminlandsnachfrage gesteigert. In neuen Haushalten besteht immer Konsumbedarf und dies zieht einen Konjunkturbelebungseffekt nach sich. Erfolgreiche Integration erfordert also Geduld und Zeitressourcen seitens der Aufnahmegesellschaft sowie auch der Flüchtlinge. Realistische Berufsperspektiven müssen vielfach erst erarbeitet werden. Hier sollte vor allem auch im Interesse der Asylwerber korrigierend eingegriffen werden. Auch dies erfordert Zeit. Je rascher die Arbeitsmarktintegration gelingt, desto eher können Bedenken in der ansässigen Bevölkerung entkräftet werden. |
Zielgerichtete Maßnahmen Rainer Eppel | Arbeitsmarktexperte am Österreichischen Institut für Wirtschaftsforschung (WIFO) |
Erstens zeichnet sich die Lage am österreichischen Arbeitsmarkt gegenwärtig durch eine so hohe Arbeitslosigkeit wie zuletzt vor rund 60 Jahren aus. Ende Oktober 2015 waren einschließlich AMS-Schulungen bereits 410.854 Personen beim AMS arbeitslos vorgemerkt. Die Kombination aus einem niedrigen Wirtschaftswachstum und einem – bereits vor Einsetzen der aktuellen Flüchtlingswelle – deutlich zunehmendem Arbeitskräfteangebot lassen die Arbeitslosigkeit seit mittlerweile vier Jahren steigen. Zwar wächst auch die Nachfrage nach Arbeitskräften, doch reicht dieser Zuwachs nicht aus, um mit der noch stärker wachsenden Zahl an Arbeitsuchenden Schritt zu halten. Zweitens benötigen aus Fluchtgründen zugewanderte Menschen Zeit, um im Zielland „anzukommen“. Sie sind oftmals traumatisiert, müssen von Grund auf die deutsche Sprache und die lateinische Schrift erlernen, sind nicht vertraut mit der österreichischen Kultur und haben nicht die sozialen Netzwerke, die ihnen den Einstieg in Beruf und Gesellschaft erleichtern. Dazu kommt, dass ihnen häufig die qualifikatorischen Voraussetzungen fehlen, um sofort auf dem Arbeitsmarkt Fuß fassen zu können. Schon alleine die Erhebung und Anerkennung der im Ausland erworbenen Qualifikationen gestaltet sich aufgrund von Sprachbarrieren, fehlenden Dokumenten und Unterschieden in Ausbildungs- und Berufssystemen schwierig. Kurzfristig werden Flüchtlinge zum Arbeitslosigkeitsanstieg beitragen. Mit zielgerichteten Maßnahmen können jedoch – neben den Chancen der ansässigen Arbeitsuchenden – auch ihre Perspektiven am Arbeitsmarkt verbessert und die Folgekosten einer unzureichenden Integration für die Gesellschaft vermieden werden. Mögliche Kernelemente einer solchen Strategie sind aus arbeitsmarktpolitischer Sicht die rasche Abwicklung von Asylverfahren zur Vermeidung langer Stehzeiten außerhalb des Arbeitsmarktes und damit verbundener Dequalifizierung, die Bereitstellung psychosozialer Unterstützung, ein flächendeckendes Angebot an Sprach- und Orientierungskursen, eine frühzeitige und systematische Feststellung verwertbarer Abschlüsse, Berufserfahrungen und Fertigkeiten nach dem Vorbild des Kompetenzchecks des AMS Wien (Pilotprojekt), sowie daraus abgeleitete Anerkennungsverfahren und berufliche Qualifizierung. Solche Unterstützungsmaßnahmen sollten bei Menschen mit hoher Chance auf einen positiven Asylbescheid bereits während des Asylverfahrens einsetzen. Für Kinder und Jugendliche ist eine schnelle Integration in qualitativ hochwertige Kinderbetreuungseinrichtungen und Schulen von großer Bedeutung, um ihnen den Spracherwerb, die soziale Integration und die Erschließung ihrer Bildungspotenziale zu ermöglichen. |
Tor für Spekulanten offen Alexandra Adam | Wohndrehscheibe der Volkshilfe Wien |
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Gemeinnützigen Wohnbau öffnen Markus Reiter | Geschäftsführer des „neunerhaus“, eine unabhängige Sozial- und Gesundheitsorganisation für wohnungslose Menschen |
Die Situation ändert sich ein wenig, sobald ein positiver Asylbescheid ausgestellt wurde. Die meisten stellen dann einen Antrag auf bedarfsorientierte Mindestsicherung – oder finden mit viel Glück Arbeit. Spielen wir dasselbe Spiel nochmal: Nun müssten Sie jedes Monat mit 827 Euro über die Runden kommen. Wahrscheinlich finden Sie mit diesem Einkommen immer noch keine Wohnung. Sprachbarrieren und ein Wohnungsmarkt-Dschungel, durch den man sich ohne Netzwerk und Unterstützung von Bekannten kaum durchkämpfen kann, sind die nächsten Hürden. Die Wahrscheinlichkeit, Opfer von Betrug zu werden, steigt. Besonders schwer haben es subsidiär Schutzberechtigte, die nur eine vorübergehende Aufenthaltsbewilligung haben: Ist der Aufenthaltstitel prekär, sind es auch die Wohnverhältnisse. Als Geschäftsführer des neunerhaus weiß ich, dass Menschen auf der Flucht mit diesen Problemen nicht allein sind. Allgemein steigt die Nachfrage nach kostengünstigem Wohnraum. Sinkende Löhne, steigende Arbeitslosigkeit, und eine Zunahme von working poor führen dazu, dass prekäre Wohnverhältnisse, Zahlungsschwierigkeiten und Wohnungslosigkeit immer mehr Menschen in Wien treffen. Etwa 400.000 Personen in Wien sind armutsgefährdet. Menschen mit psychischen und chronischen Erkrankungen, prekär wohnende EU-BürgerInnen aus den neuen Mitgliedsstaaten, Menschen in Lebenskrisen wie Scheidung und Jobverlust – genauso wie Menschen auf der Flucht. Bei vielen von ihnen verschlingen Wohnkosten nahezu die Hälfte ihres Einkommens. Für sie alle müssen wir dringend Zugang zu leistbarem Wohnraum schaffen. Dazu brauchen wir Flexibilität bei Umwidmungen und der Bauordnung sowie Leerstandsnutzung und Normen, die kostengünstiges Wohnen ermöglichen. So können wir rasch temporären Wohnraum schaffen und langfristig für mehr leistbaren Neubau zu sorgen. Gleichzeitig müssen wir bessere Zugänge schaffen – zu allen Wohnungssegmenten. Vor allem der gemeinnützige Wohnbau muss sich stärker für armutsgefährdete Menschen öffnen. In Wien umfassen geförderter und kommunaler Wohnbau zusammen immerhin fast 60 Prozent des Bestands. Die Stadt Wien hat hier durch die Vergabe starken Einfluss. Daher fordert das neunerhaus, dass mindestens die Hälfte aller mit Fördermittel errichteten Wohnungen durch die öffentliche Hand vergeben werden – und dass dazu ein transparentes Punktesystem nach der Dringlichkeit des Wohnbedarfs angemessen entscheidet. Den Zugang hingegen, so wie derzeit, an eine mehrjährige Meldezeit in Wien zu knüpfen, schließt neu zugezogene ebenso wie prekär wohnende Personen vom sozialen Wohnbau aus. Um den privaten Wohnungsmarkt leistbar zu machen, braucht es aber auch eine Reform des Mietrechtsgesetzes: die Ausweitung des Anwendungsbereiches sowie eine transparente und durchsetzbare Mietpreisobergrenze. Um Menschen, deren Leben in allen Bereichen prekär ist, wenigstens beim Wohnen langfristige Planbarkeit zu ermöglichen, sollte die Mindestbefristung auf mindestens 10 Jahre angehoben werden. In einem weiteren Schritt sollte die Delogierungsprävention ausgebaut und Mietrechtsberatung intensiviert werden. |
Entkoppeln von Deutsch und Schulreife Heidi Schrodt | Vorsitzende der Initiative „BildungGrenzenlos“ und ehemalige AHS-Direktorin |
Ganz anders wiederum verhält es sich mit den „QuereinsteigerInnen“. Kinder und Jugendliche, die mitten im Schuljahr ohne Deutschkenntnisse zu uns kommen, brauchen vorrangig zwei Dinge: einen geborgenen Rahmen – den stellt die Schule in der Regel dar – sowie ein möglichst schnelles Erlernen der deutschen Sprache. Das kann integrativ stattfinden, wenn es sich nur um ein oder zwei Kinder handelt, oder in Intensivkursen. In Schweden wird das den Schulen überlassen, je nach den Bedürfnissen des Schulstandorts, wie sie diese Kurse organisieren. Wichtig ist, dass die betreffenden SchülerInnen Anschluss an einen Klassenverband haben, etwa im Sport, in den sie dann sukzessive eingegliedert werden. Allerdings: Auch dafür brauchen wir sehr viel mehr Ressourcen als jetzt zur Verfügung stehen. Zuletzt noch ein besonders trauriges Kapitel. Wenn Jugendliche zu uns kommen, die älter als 15 Jahre alt sind und keinen Pflichtschulabschluss nachweisen können, dürfen sie hierzulande nicht mehr die Schule besuchen. Dieser (gesetzliche) Missstand betrifft ganz besonders Flüchtlinge. Hier kann nur eine Gesetzesänderung Abhilfe schaffen, etwa nach dem schwedischen Modell, wo alle Jugendlichen das Recht auf kostenlosen Schulbesuch bis 19 haben, „QuereinsteigerInnen“ noch drei Jahre länger. Aus moralischen, aber auch aus ökonomischen Gründen können wir es uns nicht leisten, diese Jugendlichen ins Abseits zu schicken. Publikation: Heidi Schrodt, „Sehr gut oder nicht genügend. Schule und Migration in Österreich“ |
Falsche Wahrheiten Sonja Ablinger | Lehrerin, ehemalige SPÖ-Nationalratsabgeordnete |
Falsch ist, dass die syrische Flüchtlingssituation überraschend kam. NGOs haben seit Jahren versucht, die Regierung auf die Situation in Syrien aufmerksam zu machen. Im Jänner 2013 (!) wies die asylkoordination mehrfach auch die wachsenden Zahl der Kriegsflüchtlinge und Probleme in den Lagern der Nachbarländer hin und kritisierte die fehlende Koordination auf EU-Ebene. Geplante Schutzgewährung sieht anders aus. Ein anderes Beispiel für falsche Wahrheiten widerspiegelt sich in der Integrationsdebatte. Von „Integrationsunwilligkeit“ wird geredet, die schwarzblaue Landesregierung in Oberösterreich will sogar ‚nicht-deutsche’ Pausengespräche bestrafen. Seit geraumer Zeit prägt den Diskurs das Bild des muslimischen Vaters, der die Lehrerin seines Kindes nicht respektiert. Es wird suggeriert, das wäre Alltagsrealität. Das ist es mitnichten. Es mag vielleicht vorkommen. Mir ist es noch nie passiert, dass ein Vater mir nicht die Hand reichte, weil ich eine Lehrerin bin. Ja, es kommt vor, dass sich Eltern nicht in die Schule trauen, weil sie schlecht Deutsch sprechen. Wenn der Vater von Ahmed, die Mutter von Elif nicht zum Elternabend kommen, hat man schnell die „Verweigerung“ als Erklärung zur Hand. Aber wenn der Vater von Hanna nie zum Elterngespräch kommt, was dann? Der Begriff „Integrationsunwilligkeit“ taugt nicht. Ja, es gibt Eltern, die mit der Schule nichts zu tun haben wollen, und ja, es gibt Familien, die völlig isoliert leben. Aber das sind nicht nur MigrantInnen. Die Ursachen liegen in einer Gemengelage. Die soziale Verarmung trifft mittlerweile viele Menschen – Hier Geborene und Zugewanderte. Wer sich die Zahlen zu den Reallohnverlusten in den letzten 20 Jahren (bei den ArbeiterInnen bis zu 14 Prozent) anschaut, das Ausmaß der prekären Beschäftigung und die rapid wachsende Arbeitslosigkeit, der findet darin viel eher Antworten, als der Begriff der „Integrationsunwilligkeit“ es vormachen will. „Argumentiert wird dann mit schlechtem Charakter, kulturellem Verfall und Faulheit. Diese Debatte ist „kulturversessen und verhältnisvergessen“, wie es Martin Schenk in einem Beitrag über ‚Verliererbeschimpfung‘ so treffend formulierte. Wenn „Ängste nehmen“ mehr als das ständige Schlagwort in Nachwahlbetrachtungen bleiben soll, wird man mit Debatten über Integrationsunwilligkeit und Asylverschärfungen nicht weiter kommen. Angst überwindet man nicht mit Drohbildern und Strafankündigungen. Man überwindet sie, wenn man die Politik der sozialen Sicherheit in den Vordergrund stellt – und zwar jener von ÖsterreicherInnen, Flüchtlingen und ZuwandererInnen. Daran wird die Integrationswilligkeit der Politik zu messen sein. |
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