Die Villa der Vertriebenen
Kinder und Jugendliche, die vor dem Krieg geflüchtet sind, allein in Österreich. Wie geht es nun weiter? Wer ist für sie zuständig, wo erhalten sie Bildung, wie finden sie Ersatzfamilien? Ein Lokalaugenschein im Georg Danzer Haus in Stockerau. Reportage: Ali Cem Deniz, Fotos: Barbara Wirl von Wirl Photo
Unter den Linden heißt die Allee, in der das Georg Danzer Haus in Stockerau steht. Bürgerlicher und idyllischer geht es kaum. Seit September teilen sich zwölf minderjährige Flüchtlinge aus Afghanistan die Unterkunft. Es ist ein helles und freundliches Heim und die Jungs sitzen gut gelaunt beim Deutschunterricht. Sie alle sitzen am selben runden Tisch und machen sich konzentriert Notizen. Auf der Tafel sind die Wochentage aufgelistet, heute ist Donnerstag. Die Unterrichtssprache ist eine Mischung aus Deutsch, Farsi und Paschtu. Lehrerin Malyar Mursal erklärt ihren Schülern, wie sie Fragensätze bilden können. Da dreht sich plötzlich ein Schüler mit freundlichem Gesicht zu mir um: „Wollen Sie Kaffee trinken oder Tee?“ Dann zischt er in die große Gemeinschaftsküche und bringt mir Schwarztee.
„Sie kommen alle aus Afghanistan. Das macht den Unterricht für mich einfacher, aber sie sind nicht alle auf der gleichen Stufe. Ich gestalte den Unterricht eher für die Fortgeschrittenen. Sie machen dann mit den Anfängern gemeinsam die Hausaufgaben und helfen ihnen weiter. Den Anfängern helfe ich auch noch extra in meiner Freizeit“, sagt Malyar Mursal. Das Georg Danzer Haus hat im September in Stockerau aufgemacht. Am Anfang gab es auch einen Jugendlichen aus Syrien. Der ist aber mittlerweile in einer anderen Einrichtung, weil er sich hier einsam gefühlt hat.
Mourtaza Ahmadi ist einer von den Fortgeschrittenen. Der ambitionierte 16-Jährige war zwei Monate in einem griechischen Flüchtlingscamp und hat dort schon versucht mit Büchern und über das Internet Deutsch zu lernen. “In Afghanistan haben wir keine Chance mehr, unsere Träume zu verwirklichen. Überall Taliban und IS“ liest er nervös von einem Zettel vor, den er extra vorbereitet hat. Ob er Deutsch gelernt hat, weil es viele Flüchtlinge wie ihn nach Deutschland zieht? Nein, er wollte schon von Anfang an nach Österreich. Hier will er sein Deutsch perfektionieren, die Schule abschließen und dann studieren. Irgendwas mit Biologie vielleicht. Mit Gewissheit kann Mourtaza ohnehin nichts sagen, wie die anderen Jugendlichen muss er erstmal das Asylverfahren abwarten.
„Das kann ein Jahr dauern, aber bis dahin bleiben die Jungs auf jeden Fall hier“ sagt Betreuer Khusrow Mursal. Khusrow verbringt nach dem Unterricht Zeit mit den Flüchtlingen, sie machen gemeinsam Sport und Ausflüge nach Wien. Es ist kein Zufall, dass er sich den Nachnamen mit der Deutschlehrerin teilt. Die beiden sind Geschwister und auch sie sind als Flüchtlinge aus Afghanistan nach Österreich gekommen. „Meine sieben Geschwister und meine Eltern sind bereits vor mir aus Afghanistan geflohen. Danach haben sie mich geholt.“ Der heute 30-Jährige hat sich 2002 während des Afghanistankriegs wie die Jugendlichen, die er jetzt betreut, alleine als Minderjähriger auf den Weg nach Österreich gemacht. Der Krieg hat inzwischen aufgehört, aber wenn Khusrow mit den Jungs redet, weiß er, dass die Situation für sie in Afghanistan genauso gefährlich war, wie für ihn damals. „Sie sind so jung und haben so vieles gesehen, was sie in diesem Alter nicht hätten sehen dürfen. Nicht mal hören sollten sie solche Sachen.“ sagt Khusrow. Manche von den Flüchtlingen kommen aus finanziell gut gestellten Familien, die ihre Kinder aus Angst und Sorge weggeschickt haben, „aber die meisten hatten sehr viele Probleme und manche sind teilweise vor den eigenen Familien geflüchtet.“
Mit Malyar und Khusrow können die Jugendlichen sich in ihrer Muttersprache austauschen und ihre Fluchtgeschichten gemeinsam verarbeiten. Sie alle stecken noch im Asylverfahren und sind erst seit kurzer Zeit in Österreich, doch in dieser Zeit haben sie auch die unschönen Seiten des österreichischen Asylsystems erlebt. Wie die meisten Flüchtlinge haben sie auch Bekanntschaft mit dem Auffanglager Traiskirchen gemacht.
Martin Brunner ist heute der einzige im Georg Danzer Haus, der nicht aus Afghanistan kommt. Der Haustechniker ist gebürtiger Stockerauer und arbeitet seit einem Monat im Haus. Während die Jugendlichen noch Deutschunterricht haben, sitzt er mit Khusrow in der Küche und trinkt seinen Tee. Er wartet auf die Pausenglocke, damit sie gemeinsam ein paar Kästen und Regale aufbauen können. Mit leuchtenden Augen redet Martin über seine Helfer: „Es ist unglaublich wie sie Deutsch lernen. Wie Schwämme saugen sie das auf. Es gibt keine Aggressionen, sondern eine unglaublich positive Stimmung.“ Während die Jungs in Deutsch Fortschritte machen, lernt auch Martin ein paar Wörter in Farsi und Paschtu.
In Stockerau leben derzeit rund 30 Flüchtlinge doch bald sollen es mehr werden. Ob die positive Stimmung im Haus, auch im ganzen Ort vorhanden ist? „Es gibt überraschend viele engagierte Menschen, aber es gibt auch welche, die glauben, dass wir in ein paar Wochen hier Krieg haben werden. Ich fürchte mich mehr von diesen Menschen, als vor den Flüchtlingen. Das ist vielleicht naiv und typisch Martin, aber ich denke wir sollten eigentlich Stolz sein, dass Menschen zu uns kommen wollen“ sagt er. Das Georg Danzer Haus hat noch Platz für zwei Jugendliche und wenn die Genehmigung kommt, sollen sie im freien Zimmer im Erdgeschoss einziehen.
Raus aus Traiskirchen
Wo unbegleitete minderjährige Flüchtlinge landen, hängt davon ab, wo sie aufgegriffen werden. Die meisten jungen Asylsuchenden kommen nach Wien und hier erwartet sie ein vergleichsweise gutes Schicksal. Im Erstaufnahmezentrum Traiskirchen müssen sie nur einen Antrag stellen. Ein Aufenthalt dort bleibt ihnen erspart, denn in Wien werden sie sofort an Einrichtungen vermittelt. Minderjährige Flüchtlinge, die in anderen Bundesländern aufgegriffen werden, müssen zuerst in Traiskirchen bleiben bis für sie ein Betreuungsplatz frei wird. Ende Juni waren rund 1.300 minderjährige Flüchtlinge in der Betreuung der Bundesländer. Mit 1.200 jungen Flüchtlingen waren fast genauso viele allein in Traiskirchen untergebracht. Sie müssen oft monatelang auf eine Vermittlung warten. Die meisten von ihnen kommen aus Syrien, Afghanistan und Somalia.
Seit 2004 wachsen die Mängel in der Unterbringung von minderjährigen Flüchtlingen. Der Grund: die Tagsätze wurden seither nicht erhöht und die Einrichtungen leiden unter den knappen finanziellen Ressourcen.
Neben Einrichtungen wie dem Georg Danzer Haus versucht seit kurzem die Drehscheibe in Wien junge Flüchtlinge so schnell wie möglich aus Traiskirchen raus zu bekommen. Die Drehscheibe vermittelt unmündige Flüchtlinge unter 14 Jahren weiter, allerdings nicht an Einrichtungen oder betreute Wohngemeinschaften, sondern an Pflegefamilien.
Ein Konzept für die Unterbringung für minderjährige Flüchtlinge hat Katharina Glawischnig von der Asylkoordination mit dem Referat für Adoptiv- und Pflegekinder der Stadt Wien aufgebaut. „Bisher wurden hauptsächlich hier geborene verwahrloste Kleinkinder an Pflegefamilien gegeben. Für den Umgang mit asylsuchenden Jugendlichen fehlte die Expertise“ sagt Glawischnig. Lange Zeit fehlten auch die Pflegeeltern, mit der Flüchtlingskrise hat sich das aber geändert. Bei einem Info-Abend für Familien, die junge Flüchtlinge aufnehmen wollten, waren insgesamt 200 Menschen anwesend, Hundert mehr als geplant. In einer Schulung und in Gesprächen werden geeignete Eltern ausgesucht. „Am Ende bleiben zehn Eltern übrig“ sagt Glawischnig. Zuerst lernen sich die Familien und die Flüchtlinge kennen, sie unternehmen Ausflüge und nach den ersten Übernachtungen können die Kinder bei ihren Pflegeeltern einziehen. Sie sind dann für die Pflege und Erziehung der Kinder verantwortlich, das Magistrat 11 bleibt die rechtliche Vertretung bis die Flüchtlinge volljährig sind.
Das Problem ist auch hier, dass es für Asylsuchende über 16 Jahren keine Vermittlungen zu Pflegefamilien gibt. Sie können in private Wohnungen einziehen oder in betreuten Wohngemeinschaften unterkommen. Katharina Glawischnig versucht deshalb derzeit noch in ihrem privaten Umfeld auf eigene Initiative für Jugendliche Pflegeltern zu finden.
Große Träume und große Hindernisse
„Sind sie aus der Türkei, Abi?“ fragt mich einer der Flüchtlinge im Georg Danzer Haus, während er das saubere Geschirr in den Regalen verstaut. Abi ist das türkische Wort für „großer Bruder“. Ich antworte ihm mit ja und er erzählt mir, wie er aus Afghanistan geflohen ist und in der Türkei einen zweijährigen Stopp gemacht hat. Majid Ayubi ist 17 und kommt aus der noch heute hart umkämpften Stadt Kunduz. In Istanbul hat er bei einem Schneider und in einem Restaurant gearbeitet. Mit der Arbeit hat er sich das Geld für die weitere Reise nach Europa verdient. Viel hat er von Istanbul und der Türkei nicht gesehen, als „illegaler“ Flüchtling musste er sich verstecken. Seit drei Monaten lebt er in Österreich. „Hier ist es sehr schön. Zwei Monate war ich in Traiskirchen. Das Essen war dort sehr schlecht und mangelhaft. Es gab auch keine Deutschkurse. Wenn man dort krank ist, dauert es sehr lange, bis man einen Arzt sehen kann oder Medizin bekommt“ erzählt Majid auf Türkisch und wenn ihm mal ein Wort nicht einfällt, wechselt er auf Englisch. Majid ist Musiker und spielt traditionell-afghanische Instrumente sowie Klavier. „Ich habe österreichische Freunde, die mir ein Keyboard geschenkt haben. Mit ihnen mache ich manchmal gemeinsam Musik, aber ich brauche einen Lehrer, damit ich professioneller Musiker werden kann“ sagt Majid, aber zuerst muss er sein Asylverfahren abwarten. In Afghanistan hat er nicht die Schule abschließen können, weil er neben der Schule arbeiten musste und die Situation in Kunduz immer gefährlicher wurde. „It’s safe here und das ist gut“ sagt Majid lächelnd.
Für die jungen Flüchtlinge wird mit zunehmendem Alter alles komplizierter, vor allem wenn sie auf das Ende des Asylverfahrens warten müssen. Auch das Georg Danzer Haus müssen volljährige Flüchtlinge verlassen. Bei einem ist es in drei Monaten soweit. Außerdem können die, die nicht mehr im Pflichtschulalter sind, die Schule nicht abschließen ohne einen positiven Asylbescheid zu bekommen. Das trifft auf die große Mehrheit der minderjährigen Flüchtlinge zu, denn viele von ihnen sind oft jahrelang unterwegs und besuchen während dieser Zeit keine Schule.
Initiativen wie „Projekt Schule für Alle“ (PROSA) in Wien bieten den Flüchtlingen die Möglichkeit den Schulabschluss nachzuholen, aber angesichts der steigenden Anzahl von minderjährigen Flüchtlingen sind auch hier die Kapazitäten begrenzt.
Noch schlimmer ist die Situation für jene Flüchtlinge, die schon volljährig sind oder deren Minderjährigkeit nicht anerkannt wird. Obwohl ihre Kindheit auf der Flucht vergeht und manche zum Teil nach jahrelangen Irrfahrten in Österreich landen, genießen sie keinen besonderen Schutz. Bestehen Zweifel an der Minderjährigkeit, schreibt das Gesetz eine medizinische Altersfeststellung vor. Dies sollte jedoch nur dann durchgeführt werden, wenn die Flüchtlinge keine oder unzureichende Dokumente haben. Die Asylkoordination kritisiert, dass die Dokumente oft gar nicht beachtet werden. Falls trotz Untersuchungen das Alter nicht sicher festgestellt werden kann, gilt laut Gesetz „in dubio pro minore.“ Laut Asylkoordination wird auch diese Regel in der Praxis übersehen.
Berge und Flüsse
„Als ich die Jungs gesehen habe, habe ich mich gleich in ihre Situation versetzt. Vor vierzehn Jahren bin ich auch wie sie da gesessen, ohne einen Plan und ohne ein Wort Deutsch zu sprechen. Deswegen möchte ich ihnen zeigen, dass es Menschen gibt, die genauso angefangen haben wie sie und dass sie die Hoffnung nicht verlieren dürfen“ sagt die Lehrerin Malyar.
Unterstützung für die afghanischen Jungs kommt auch aus der Nachbarschaft. „Beinahe täglich bringen Menschen Spenden und Jugendliche aus der Gegend kommen zum Fußballspielen“ erzählt Malyar. Durch Sport können die Flüchtlinge mit anderen kommunizieren und sich in Stockerau einleben. Zwei besonders talentierte Bewohner des Georg Danzer Haus sollen bei einem Probetraining eines Fußballvereins in Stockerau teilnehmen.
Am Nachmittag geht der Deutschunterricht zu Ende. Malyar und Khusrow setzen sich gemeinsam mit den Jugendlichen im Kreis. Majid, der Musiker, holt sein Keyboard und spielt eine Melodie, die alle im Raum kennen. Dann singt der Junge mit einer erstaunlich kräftigen Stimme und beim Refrain singen alle gemeinsam mit. Es ist ein altes Volkslied aus ihrer Heimat über die schönen Berge und Flüsse, die sie so bald nicht mehr wiedersehen werden, aber irgendwie passt das Lied auch zu ihrer neuen Heimat.
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