Ohne Empathie geht es nicht
Thomas Fischer ist ein ungewöhnlicher Fall. Als Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof in Karlsruhe nimmt er sich dennoch kein Blatt vor den Mund, wenn er als Kolumnist in „Die Zeit“ über gesellschaftspolitische Themen schreibt. Ein Gespräch über Flüchtlinge, Hartz IV und ein Leben ohne Stromausfälle. Interview: Ali Cem Deniz, Fotos: Karin Wasner
In der gegenwärtigen Diskussion über Flüchtlinge fällt oft der Begriff des Rechts. Wenn es um Asylrecht geht oder wenn Menschen sagen, dass „unsere“ Armen Recht auf Unterstützung haben. Was ist denn dieses Recht? Was ist Ihre Definition von Recht?
Die Rechte im Sinne von subjektiven Rechten stehen nebeneinander. In Deutschland gibt es Artikel 16 des Grundgesetzes, das Asylrecht garantiert. Das ist ein Menschenrecht, das nicht in Frage steht.
Wieso fürchten sich einige davor, dass vertriebene Menschen, die in Europa ankommen, mehr Rechte bekommen als die Einheimischen?
Diese Gefühle haben nichts mit rechtlichen Überlegungen zu tun, sondern stammen aus den Tiefen des Bauchs der Menschen. Es gibt Angst vor Konkurrenz und man versucht, diese Ängste zu rationalisieren. In der Wirklichkeit lässt sich nicht nachvollziehen, dass Sozialhilfeempfänger oder Hartz IV-Empfänger, jetzt weniger Unterstützung bekommen, weil Flüchtlinge auch Anspruch auf Grundsicherung haben. Die Flüchtlinge nehmen den Bürgern nichts weg, was ihnen ohne sie gewährt würde oder zustünde. Man muss es auch deutlich sagen: dieser scheinbar populäre Impetus, dass das alles von unseren Steuern bezahlt wird, steht auf tönernen Füßen. Die meisten Menschen, die so etwas behaupten, zahlen ja gar keine oder nur sehr wenig Steuern. Viel Steuern zahlen vielmehr die von ihnen verachteten Gutmenschen aus der Mittelschicht. Hartz IV-Empfänger zahlen überhaupt keine Einkommenssteuern, trotzdem fühlen sie sich am meisten bedroht. Daher hat die Aufregung mit den Staatsfinanzen und den Steuern und den realen Belastungen gar nichts zu tun. Es geht vielmehr um soziale Rangordnungen und Chancen. Als Arzt, Rechtsanwalt oder Zahnarzt muss man sich vor albanischen Flüchtlingen nicht fürchten, aber als Hartz IV Empfänger muss man sich möglicherweise bedroht fühlen.
Sie haben gesagt, dass Europa 10 Millionen Flüchtlinge aufnehmen könnte, aber eben diese Menschen, die selbst in der Unterschicht sind, spüren die Veränderungen am meisten. Ihre Berufswelten, ihre Nachbarschaften und ihr Alltag verändern sich. Wie kann man diesen Menschen kommunizieren, dass die Ankunft von Menschen nicht automatisch ihren Abstieg einleiten muss?
Schwierige Frage. Natürlich geht das nicht durch einfache Erklärungen und auch nicht von heute auf morgen. Die Frage ist, in welcher Struktur wir diese Integration vornehmen wollen. Wenn wir davon ausgehen, dass diese Struktur immer gleich bleibt oder dass die Integration sich genauso verwirklicht, wie sie jetzt befürchtet wird, dann wird es in der Tat zu erheblichen Verwerfungen kommen, weil beispielsweise billige Arbeitskräfte durch noch billigere verdrängt werden. Das war bei allen bisherigen Migrationswellen so, und die Politik-Verlautbarung sollte nicht so tun, als gäbe es dieses Problem gar nicht. Das ist nicht anders als das, was in Bangladesch oder Indien oder sonstwo auf der Welt aufgrund der dortigen großen Migrationsbewegungen passiert. Der Stundenlohn einer Näherin in einer Textilfabrik fällt von 12 Cent auf 9 Cent. Und da werden sich diejenigen, die schon da sind und 12 Cent bekommen, bedroht fühlen von den Neuankömmlingen. Ich denke, dass wir in Europa, schon aufgrund unserer Geschichte, unserer bestehenden Sozialstrukturen und des ungeheuerlichen Reichtums mit derartigen Problemen in einer existenziellen Form gar nicht befasst sein werden.
Auch nicht in der Unterschicht?
Eigentlich auch nicht in der so genannten Unterschicht. Aber es kommt darauf an, wie die Gesellschaft – das heißt: die Ökonomie – mit einer großen Population von potentiellen Underdogs umgehen will, und welche Interessen sich in der Gesellschaft artikulieren und durchsetzen. Unsere Gesellschaft ist selbstverständlich im Grundsatz ohne weiteres dazu in der Lage, auch einer großen Zahl von Menschen ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen, selbst wenn sie nicht arbeiten. Das ist aber selbstverständlich das Ziel. Die Frage ist stets: Wer profitiert von solchen Ereignissen? Wem geht es schlechter? Das sind Fragen, die nicht auf der Ebene von „gutem Willen“ oder von Barmherzigkeit gelöst werden.
Häufig wird zwischen „echten“ Flüchtlingen und so genannten „Wirtschaftsflüchtlingen“ unterschieden. In Westeuropa gibt es auch viele Menschen, die mit ihrer finanziellen Situation nicht zufrieden sind. Wieso wandern die eigentlich nicht aus?
Viele Menschen – auch wir selbst – können sich nur ganz schwer vorstellen, wie es anderen Menschen geht. Es herrscht ein starkes Bedürfnis der Menschen danach, sich genau da einzurichten, wo man ist und genau das Lebenskonzept, das man aktuell lebt, für das Ende der Geschichte zu halten. Ich glaube nicht, dass die meisten Menschen, die sich darüber beklagen, dass es den Flüchtlingen zu gut gehe, sich ernsthaft vorstellen können, wie es sich zurzeit in Syrien oder im Irak lebt, oder wie ihre Urgroßeltern in einem europäischen Land gelebt haben, aus dem sie in das Gebiet gelangt sind, das sich heute „Deutschland“ nennt. Die Menschen geraten in Panik, wenn an einem Tag in zehn Jahren die Straßenbahn Straßenbahn oder das Fernsehen oder der Strom ausfallen. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie es ist, wenn das die Normalität ist. Und erst recht nicht, wie eine so genannte Normalität am untersten Ende aussieht. Jeder von denen, die sich über die Flüchtlinge beklagen, wäre stolz und froh, unter solchen Umständen ein Flüchtling zu sein, der für sich und seine Nächsten alles wagt.
Wie wichtig ist eigentlich Empathie bei Ihrer Arbeit als Richter?
Sie sollte sehr wichtig sein. Ich glaube, es ist nur schwer möglich Recht zu sprechen ohne sich um Empathie zu bemühen. Rechtsfindung ist ja im Einzelfall nicht einfach eine Anwendung von starren Normen auf vorgegebene Sachverhalte ist, sondern verwirklicht sich erst selbst in der Rechtsprechung. Sowohl die rechtlichen Regeln als auch die tatsächlichen Umstände, auf die sie angewendet werden sollen, müssen mit Sinn erfüllt werden, und das ist nur ein anderer Ausdruck für Empathie.
Die Flüchtlingskrise hat nicht nur Ressentiments gegen Asylsuchende offenbart, sondern auch ein großes zivilgesellschaftliches Engagement. An den Bahnhöfen von Wien, Salzburg und München helfen Freiwillige und übernehmen dabei auch Aufgaben, die der Staat ausführen sollte. Welche Rolle haben denn die Staaten überhaupt noch in dieser Krise?
Die staatlichen Strukturen sind offenkundig von der Dynamik dieser großen Flüchtlingswelle, die in den letzten Monaten und Jahren auf Europa kommt, noch immer überrascht und überhaupt nicht darauf vorbereitet. Obwohl man den allgemeinen Reden hätte entnehmen können, dass das Gegenteil der Fall ist. Ich würde nicht sagen, dass der Staat willentlich Aufgaben an die Zivilgesellschaft auslagert. Es setzt sich nicht die Bundesregierung zusammen und beschließt: lassen wir einfach mal die Münchner das alleine machen. Die Entscheidungsträger wissen, so glaube ich, wirklich oft nicht, was sie tun sollen, weil die Denkstrukturen und Verwaltungsstrukturen den tatsächlichen Anforderungen gar nicht gewachsen sind. In solchen Situationen kommt natürlich eine spontane Improvisationsbereitschaft der Zivilgesellschaft zu Hilfe, und das ist auch völlig richtig so. Das zeigt im Grundsatz, dass eine außerordentliche hohe Bereitschaft besteht, diesen Staat und dieses Gemeinwesen als Eigenes zu akzeptieren, unabhängig davon, was ein Innenminister daher schwatzt und ob er sich als „geeignet“ oder überfordert erweist.
Wieso sind die Strukturen so überrascht?
Das weiß ich nicht. Freilich muss man ja zugeben, dass man selbst auch überrascht ist. Der Mensch neigt dazu, im Nachhinein alles besser zu wissen. Ich hätte mir auch nicht vorstellen können, welche Dynamik da in Gang kommt. Das beweist aber, mit welcher Gleichgültigkeit wir den Kriegen, der Armut und dem Hunger auf der Welt begegnen. Als würden die Menschen in der fernen Welt das Elend ewig aushalten und als hätten wir ewig Zeit darüber nachzudenken, wie wir unser schönes Leben luxuriös zu Ende führen können ohne uns dabei allzu schuldig zu machen. Das geht aber nicht mehr. Und davon sind nicht nur Kanzler, Minister und Politiker überrascht, sondern die ganze Gesellschaft.
Ist die Kontrolle von Migration überhaupt möglich oder eine Illusion?
Migration könnte ohne jeden Zweifel wesentlich stärker kontrolliert werden, als es derzeit geschieht. Aber wir können sie nicht zu einem Preis kontrollieren, den wir mit unseren Grundwerten vereinbaren können. Mit Gewalt kann man alles regeln, und die Fähigkeit zur Gewalt ist eindeutig auf der Seite der reichen Nationen. Wenn also die Bereitschaft da wäre, könnte man die Mehrheit der Erdbewohner für eine gewisse Zeit mit Gewalt von den Grenzen der reichen Gebiete zurückdrängen und so das Problem vorerst aufschieben. Die Frage ist natürlich auch, ob und wie unsere Gesellschaften das aushalten würden.
Es kommt nicht oft vor, dass ein Bundesrichter das aktuelle Geschehen so öffentlich kommentiert, wie Sie es tun. Wie gehen Sie mit Ihrer medialen Präsenz um?
Teilweise ist öffentliches Interesse schmeichelhaft. Man freut sich, dass man gefragt wird. Aber man muss sich auch vorsehen, nicht in einen Sog der Eitelkeit zu geraten. Man muss nicht zu allem was wissen oder sagen. Es ist ungewöhnlich für einen Richter des Bundesgerichtshofs, so medienpräsent zu sein. Momentan sehe ich aber keine ernsthaften Konflikte: Weder mit meiner Tätigkeit noch mit meinem Selbstbild. Es handelt sich vielmehr um eine Debatte über „Stil“, Darstellung, „Nestbeschmutzung“, auch Neid. Das Bild des Richters als scheinbar meinungslosem Vollstrecker eines objektiv daherkommenden, unpolitischen, neutralen Rechts ist verbraucht und unglaubwürdig; es ist zu einer Karikatur verkommen, der leider noch immer die meisten Richter – vielleicht auch aus Furcht und Gewohnheit – anhängen. Ich würde dieses Bild gern ein wenig ändern.
Es gibt derzeit eine Debatte über Hass und Hetze im Netz. Wie gehen Sie mit den Kommentaren unter ihren Artikeln um?
Ich lese eine recht große Zahl der Kommentare, und beantworte manche. Da gibt es sehr unterschiedliche. Es gibt sehr viele konstruktive Kommentare. Manche sind internetüblicher Unsinn; manche scheinen mir von hasserfüllten, auch gefährlichen Menschen zu stammen, die ihre Aggressionen kaum noch unauffällig managen können. Das ist erschreckend. Auf manche Kommentare antworte ich, weil ich es interessant und lehrreich finde, mit Lesern in Kontakt zu treten. Man muss sich freilich klar sein, dass immer nur ein kleiner Teil der Leser Kommentare schreibt. Es ist eine spezielle Auswahl, aber ich denke man muss sich darauf einlassen, wie auf alles andere auch.
Sie wollten ja selbst mal Schriftsteller werden. Jetzt verwenden sie in ihren Kolumnen oft eine bildgewaltige und teils poetische Sprache. Wurden da alte Träume wieder erweckt?
Ich habe schon immer gern geschrieben. Im Feuilleton für ein großes Publikum zu schreiben ist natürlich was völlig anderes, als wissenschaftliche Texte zu verfassen. Ich tue das gern, aber ich träume nicht die Träume meiner Jugend nach. Ich bin schon seit Längerem angekommen.
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