Schöner wohnen
ManagerInnen attestieren Wien regelmäßig Top-Lebensqualität. Zugleich wird leistbarer Wohnraum zur Luxusware. Wie hat sich das Leben im „roten Wien“ verändert? Text: Mara Verlic, Justin Kadi
„Lebensqualität – Wien ist und bleibt Nummer eins.“ So kann man es auf der Homepage der Stadt Wien aus einer ganzen Sammlung von internationalen Studien ablesen. Nicht zuletzt die Unternehmensberatungsfirma Mercer hebt Wien nun schon seit mehreren Jahren in Folge auf den ersten Platz in puncto Lebensqualität. Doch um wessen Lebensqualität geht es hier eigentlich? Die Ergebnisse von Mercer etwa basieren auf einer Befragung von ManagerInnen in gehobenen Positionen in Wien. Interessanterweise dient diese privatwirtschaftliche Elite dem Bürgermeister als Bestätigung für die Richtigkeit des gesamten stadtpolitischen Kurses: „Es ist vor allem auch ein Auftrag für uns, diesen erfolgreichen Wiener Weg hin zu einer pulsierenden, lebenswerten und sozial gerechten Metropole auch künftig fortzusetzen.“ (wien.gv.at, 2015)
Soziale Gerechtigkeit in einer Stadt wird zu einem großen Teil über die Leistbarkeit und Zugänglichkeit von Wohnraum definiert. Blickt man auf die Entwicklungen der vergangenen Jahre, findet sich Wien auch hier im europäischen „Spitzenfeld“ – jedoch in einem weitaus unrühmlicheren. Leistbarer Wohnraum in der Stadt ist rasant knapp geworden. Die Zahl derer, die sich ein Dach über dem Kopf gerade noch oder nicht mehr leisten können, ist in den letzten Jahren explodiert. Eine Studie der Arbeiterkammer Wien zeigt, dass die Mieten in Wiener Altbauwohnungen zwischen 2000 und 2010 um durchschnittlich 67 Prozent gestiegen sind. Die immer weiter aufgehende Schere zwischen Wohnungskosten und Haushaltseinkommen ist für viele in der Stadt bereits zu einer untragbaren Belastung geworden.
Die starke Zuwanderung und der Trend zu kleineren Haushalten werden gerne als Ursachen der wiederauftauchenden Wohnungsfrage diskutiert. Sie können jedoch die Schieflage zwischen der wachsenden Zahl an Luxusapartments und dem fehlenden leistbaren Wohnraum nicht vollends erklären. Es sind vor allem politische Entscheidungen, die für die veränderte Wohnungslage mitverantwortlich sind. In der Tat, in Wien zeigt sich besonders deutlich, wie zentral die Rolle der Politik für die konkrete Ausprägung und Form der städtischen Wohnungsfrage ist.
Heute beherrscht jedoch die Naturalisierung der sozialen Schieflage in der Wohnversorgung den Alltagsdiskurs, wenn die Politik vor den Kräften des privaten Wohnungsmarktes zu kapitulieren scheint. So meint etwa Erwin Wurm, eine der wichtigsten Stimmen des sozialen Wohnbaus in Wien, dass „die Einkommensschwächsten nicht in den qualitativ hochwertigsten und damit teuersten Häusern wohnen müssen.“ (derstandard.at, 2013) Eine erstaunliche Aussage in einer Stadt, die sich allzu gerne ihr umfassendes sozialpolitisches Engagement auf die Fahnen schreibt und dabei auf die Wohnpolitik des Rotes Wiens der Zwischenkriegsjahre verweist.
Die alte Wohnungsfrage
Wie viele andere europäische Städte war auch Wien am Beginn des 20. Jahrhunderts von einer massiven Wohnungskrise betroffen. Die fortschreitende Industrialisierung des 19. Jahrhunderts brachte Massen von ArbeiterInnen aus allen Regionen Österreich-Ungarns in die Hauptstadt der Monarchie und Wien wuchs zwischen 1840 und 1918 von 440.000 auf über zwei Millionen EinwohnerInnen. Die zugezogene Bevölkerung traf auf einen durchwegs privaten Wohnungsmarkt, auf dem EigentümerInnen die Knappheit von Wohnraum zur Profitmaximierung nützten. Als soziale Aufgabe wurde die Wohnversorgung in dieser Zeit nicht begriffen, und so blieben für viele die überfüllten Bassena-Wohnhäuser außerhalb des Gürtels als einzige Alternative. Um 1910 gab es in Wien rund 170.000 prekäre UntermieterInnen und BettgeherInnen, die nur einen Schlafplatz in einer fremden Wohnung mieteten. In den großen Teuerungsrevolten von 1911 in Ottakring zeigten sich Wut und Verzweiflung der ArbeiterInnenklasse, nicht zuletzt auch über die Leistbarkeit von Wohnraum. In Wien etablierte sich die Sozialdemokratische Arbeiterpartei als stärkste politische Kraft und als die Stadt 1922 zum eigenen Bundesland erklärt wurde, war durch die finanzielle Eigenständigkeit der Grundstein für ein Experiment in lokalem Sozialismus gelegt: die Zeit des Roten Wiens brach an. Eine neu eingeführte, progressiv gestaffelte Wohnbausteuer sorgte für die Umverteilung finanzieller Mittel. Gepaart mit einer Reihe weiterer Luxussteuern schuf sie die finanzielle Basis für den Start der Wohnbauprogramme der Gemeinde Wien: Während der 1920er Jahre wurden rund 64.000 Gemeindewohnungen geschaffen. In guter Bauqualität, hell und mit eigenem Bad und Küche gab es günstigen Wohnraum in den charakteristischen Superblocks, wie etwa dem Karl-Marx-Hof. Die Vergabe der Wohnungen erfolgte über ein Punkteschema, das die Dringlichkeit des Bedarfs feststellte: Neben den Wohnraum betreffenden Faktoren spielten hier auch StaatsbürgerInnenschaft, Aufenthaltsdauer und Familienstrukturen eine Rolle. Österreichische Wiener Jungfamilien mit Arbeit waren die primäre Zielgruppe.
Der Wohnbau des Rotes Wiens war ein zentraler Teil eines ideologischen Projekts zur Schaffung eines neuen Menschen am Weg des ‚Hineinwachsens’ in den Sozialismus – wie es der führende austromarxistische Denker Otto Bauer formulierte. Die Machtstrukturen in den neuen Bauten waren daher strikt vertikal, Mitsprache der MieterInnen war kaum vorgesehen und die Überwachung durch Bezirks- und Häuserwarte war prägend. Trotz der Schaffung einer großen Zahl an leistbaren Wohnungen, war das Rote Wien damit auch durch Exklusion von Bevölkerungsgruppen und hierarchischer Planung von oben herab gekennzeichnet.
Die neue Wohnungsfrage
Im Jahr 2015, knapp 90 Jahre nach den Anfängen des Roten Wiens, befindet sich Wien wieder in einer Wohnungskrise. Durchschnittlich gibt ein Wiener Haushalt heute 25 Prozent seines verfügbaren Einkommens für Wohnkosten aus - im Jahr 2004 waren es noch 16 Prozent. Für arme Haushalte sind Belastungen von mehr als der Hälfte des Einkommens keine Seltenheit. Viele suchen nach einer Wohnung im günstigsten Preissegment, dem Gemeindebau, wo jedoch die Wartelisten lang sind: Laut Wiener Wohnen waren im Jahr 2013 rund 27.600 Personen für eine Wohnung vorgemerkt – vor 10 Jahren waren es erst 18.700. Am privaten Markt geraten immer mehr in Mietrückstand, in etwa 2.560 Fällen jährlich, oder sieben Fällen täglich, kommt es zu einer Delogierung. Viele davon landen auf der Straße. Im Jahr 2010 lag die Zahl der wohnungslosen Personen bei 6.797 – ein Anstieg um 45 Prozent seit 2006.
Wohnungspolitische Veränderungen spielen eine wichtige Rolle in der Produktion der neuen Wiener Wohnungskrise. Die im Roten Wien begonnenen und im Rahmen des sozialpartnerschaftlichen Wohlfahrtsstaates der Nachkriegszeit weitergeführten sozialpolitischen Interventionen in den Wohnungsmarkt wurden in den letzten dreißig Jahren schrittweise unterminiert. Wohnen wird damit zunehmend wieder – wenn auch noch nicht vollkommen – als Ware definiert und reguliert. Die „Reformen“ des privaten Mietwohnungsmarktes Mitte der 1990er Jahre sind ein illustratives Beispiel: Die Einführungen von Richtwertmietzins, Lagezuschlägen und befristeten Mietverträgen haben sich allesamt als Zugeständnisse an profitorientierte VermieterInnen herausgestellt. Gleichzeitig betreibt die Stadt Wien seit 2004 selbst keinen sozialen Wohnbau, also Gemeindebau, mehr. Die Alternative dazu bildet der soziale Wohnbau durch gemeinnützige Bauträger. Das ist zwar günstiger als privates Mieten, jedoch machen hohe Eigenmittelanforderungen diesen Sektor vor allem für die Mittelschicht attraktiv. Die kürzlich eingeführten Programme wie etwa Smart-Wohnungen, Superförderung oder die Wohnbauinitiative, haben dem ungedeckten Bedarf an leistbarem Wohnraum bisher nicht ausreichend entgegengewirkt. Neben dem Abbau sozialpolitischer Interventionen gibt es vermehrte Anzeichen einer restriktiveren staatlichen Ordnungspolitik. Die Vertreibung von Obdachlosen aus dem Stadtpark oder die verstärkten Kontrollen der Wiener Bahnhöfe symbolisieren eine Politik, die sich zunehmend damit beschäftigt, die Versäumnisse und Probleme einer marktorientierten Wohnungspolitik zu kaschieren und unsichtbar zu machen. Und wenn eine Hundertschaft an PolizistInnen im Juli letzten Jahres ein Haus eines privaten Immobilienentwicklers von ungewünschten BewohnerInnen räumt, geriert sich der Staat als Wegbereiter für private Profit- und Spekulationsinteressen auf dem Wohnungsmarkt.
Wohnen als Recht
Der Blick in Wiens Geschichte zeigt die Wohnraumversorgung sowohl vor rund 100 Jahren als auch heute als eine politische Frage. Die Frage, wer Zugang zu wie viel und welchem Wohnraum hat wird maßgeblich vom wohnungspolitischen Kontext bestimmt. Das Wohnbauprogramm des Rotes Wiens zu Beginn des vorigen Jahrhunderts verschaffte vielen armen Haushalten Zugang zu Wohnungen. Andererseits brachte die Ideologie des lokalen Sozialismus auch hierarchische Planung durch die Gemeinde und eine Ordnungspolitik der Überwachung und Kontrolle im Bereich des Wohnens. Seit den 1980ern sehen wir einen Abbau sozialpolitischer Verteilungsmaßnahmen von Wohnraum, der sich zuletzt zunehmend mit einer restriktiven Ordnungspolitik gegen die Sichtbarkeit von Wohnungsproblemen und gegen Alternativen zu einer warenförmigen Wohnversorgung paart.
Ein Recht auf Wohnen bedeutet zweierlei: ein Recht auf Zugang zu Wohnraum, als auch ein Recht auf Selbstgestaltung und Mitsprache im Bereich des Wohnens für alle. In unserer heutigen Realität – kurz vor den Wiener Wahlen – kann das bedeuten, für eine Politik des Wohnens einzutreten, die Raum nicht als Ware begreift, in der die Stadt (wieder) eine wichtige Rolle in der Bereitstellung von Wohnraum übernimmt und Leistbarkeit für alle als wohnungspolitisches Ziel verstanden wird. Zusätzlich muss es jedoch auch eine Politik sein, die keine neuen Exklusionen produziert, die Alternativen und Experimente im Wohnen zulässt und auf direkte Einbindung der Wohnenden abzielt. Ein derartiges Recht auf Wohnen wäre ein wichtiger Baustein für eine Stadt mit hoher Lebensqualität für alle.
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