Nach dem souveränen Staat
SONDERECKE. Wenn der Staat schwindet, müssen Demokratie und Menschenrechte neu organisiert werden. | um die Ecke gedacht mit Philipp Sonderegger
Postsouveräne Territorialität. Ein neuer Modebegriff macht in den Politikwissenschaften die Runde. Das Bild einer Welt, die in souveräne Nationalstaaten aufgeteilt ist, sei nur mehr schwer mit der Realität in Einklang zu bringen. Tatsächlich muss man festhalten, dass das Westfälische System mit seiner imaginierten Einheit von Staatsgewalt, Staatsgrenzen und Staatsvolk in einer globalisierten Welt deutlich an Plausibilität eingebüßt hat.
Mehr denn je erweist sich die demokratisch legitimierte Staatsgewalt mit ihrer inneren und äußeren Verfügungsmacht als fragwürdige Behauptung. Staatsmacht wird privatisiert und internationalisiert. Banken, Ratingagenturen und Konzerne fahren Schlitten mit nationalen Regierungen, polizeiliche Aufgaben werden ausgelagert, Geheimdienste knabbern im allgemeinen Terror-Taumel am Gewaltmonopol. Dem gegenüber stehen Kompetenzverschiebungen zur EU, dem IWF oder dem internationalen Strafgerichtshof, ohne dass diese immer ausreichend demokratisch legitimiert wären – während von Ländern wie Syrien, Libyen oder dem Yemen mangels legitimierter RepräsentantInnen überhaupt schon als „failed states“ gesprochen wird.
Auch Staatsgrenzen verlieren zunehmend ihre Bedeutung als Begrenzung menschlicher Austauschbeziehungen. Europäische Investitionen, amerikanische Waren, chinesische Treibhausgase und indische Blockbuster wandern nahezu ungehindert um die Welt. Wo solche Grenzen fallen, entgeht der Austausch auch dem Zugriff nationalstaatlicher Regelung.
Und selbst das Staatsvolk ist längst nicht mehr das, was es einmal war. Zahlreiche BürgerInnen tummeln sich im staatlichen Territorium ohne Teil des politischen Gemeinwesen zu sein. In Wien kann bekanntlich ein Viertel der EinwohnerInnen mangels Staatsbürgerschaft nicht wählen. Das demokratische Versprechen lautet aber, dass alle Rechtsunterworfenen die Chance haben, sich in gleichem Maße an der Gesetzgebung zu beteiligen. Das ist der Bonus repräsentativer Demokratien gegenüber monokratischer Herrschaft. Wenn sich nun erweist, dass die Institutionen, mit denen wir Demokratie und Menschenrechte organisieren weder die vorausgesetzte Verfügungsgewalt und Reichweite besitzen noch die Menschen auf ihrem Territorium repräsentieren, dann läuft das demokratische Versprechen ins Leere und es wäre an der Zeit, Demokratie und Menschenrechte Globalisierungs-fit zu machen.
Wie müssen demokratische Entscheidungen umorganisiert werden, damit sie der Globalisierung ihrer Auswirkungen sowie der gestiegenen Mobilität der Menschen gerecht werden? Welche Institutionen benötigen wir, damit Menschen ihre (Menschen-)Rechte einfordern können, egal wo auf der Welt sich gerade befinden? Eine gewaltige Herausforderung, der wir uns stellen sollen.
Philipp Sonderegger ist Menschenrechtler, lebt in Wien und bloggt auf phsblog.at.
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