Wann beginnt der Vorkrieg?
POPULÄR GESEHEN. „Kultur“, schrieb der Ethnologe Maurice Godelier, „erklärt nichts. Sie ist das zu Erklärende.“ Über kulturalistische Kurzschlüsse. | Eine Kolumne von Martin Schenk
Menschen ohne Bekenntnis haben höhere Bildungsabschlüsse als KatholikInnen in Österreich. Kulturalistischer Kurzschluss: Um ökonomisch fit für die Zukunft zu sein, müssten wir die KatholikInnen zurückdrängen, um die Bildungsquote zu erhöhen. Die letzten Terroranschläge in Österreich wurden von einem Katholiken aus der Südsteiermark, Franz Fuchs, verübt und mit der Verteidigung des christlichen Abendlandes begründet. Kulturalistischer Kurzschluss: Achtung vor der Gefahr christlichen Terrors in Österreich. Patriarch ermordet Frau, der Macho hat einen türkischen Namen. Kulturalistischer Kurzschluss: Das ist kein Mord, sondern ein Kulturdelikt. Macho hält Frau im Keller gefangen, sein Name ist Fritzl oder Priklopil. Kulturalistischer Kurzschluss bleibt aus: ein verrückter Einzeltäter. Wir nehmen uns die Kultur, wie wir sie brauchen. Nobelpreisträger Amartya Sen hat diesen Zwang zur Alles- oder Nichts-Identität als „pluralen Monokulturalismus“ bezeichnet. Das meint, dass ganze Bevölkerungsgruppen von einer einzigen Kultur und einer einzigen Identität ausgehen, derer sich alle einzufügen haben. Sie kann durch Blut, Herkunft oder Religion bestimmt sein.
Menschen erwerben Rechte jedoch durch ihr Menschsein, nicht durch die Zugehörigkeit zu einer Religion, Kultur oder Herkunft. Wird das umgedreht, schnappt die Kulturalismus-Falle zu. Als was du geboren wurdest, das bist du. Einmal „Ausländer“ immer „Ausländer“. Sie fasst deshalb auch den Integrationsbegriff kulturalistisch. Menschen müssen aber die Freiheit haben, sich gegen (religiöse) Herkunft oder Tradition zu entscheiden. Das ist Grundlage für die demokratische Verfasstheit einer Gesellschaft. Gläubige, ob sie zu Gott, Jahwe oder Allah beten, sind immer auch Frauen und Männer, Arme und Reiche, Mächtige und Ohnmächtige. Das zeigt, dass wir als Menschen mehrere Identitäten haben und dass ethnische Zugehörigkeit weniger wichtig ist als politische Überzeugung oder unser Beruf.
„Kultur“, schrieb der Ethnologe Maurice Godelier, „erklärt nichts. Sie ist das zu Erklärende.“ Es drängt sich der Verdacht auf, dass über Kulturen gesprochen wird, weil nicht über Menschenrechte gesprochen werden soll. Zwangsverheiratung sollte aber genauso diskutiert werden wie die Menschenrechtssituation in der Schubhaft und sogenannte Ehrenmorde genauso wie Männergewalt in der Familie. Das identitäre Entweder-Oder trägt auch in seiner harmlosesten Ausprägung den Keim des Krieges in sich. Man könne wissen, wann der Krieg beginnt, lässt Christa Wolf die trojanische Königstochter und Seherin Kassandra in ihrer gleichnamigen Erzählung sagen: „Aber wann beginnt der Vorkrieg?“ Der „plurale Monokulturalismus“ unterscheidet sich nicht grundlegend vom Kampfprogramm religiöser Fundamentalisten. Denn beide sind miteinander verfreundete Feinde.
Martin Schenk ist Sozialexperte der Diakonie Österreich.
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