Geringe Gesundheitserwartung
Österreich hat eine hohe Lebenserwartung. Angehörige ärmerer Schichten leben aber durchschnittlich 8 Jahre kürzer als Bessergestellte. Der Kinderfacharzt Klaus Vavrik über frühe Ursachen und eine hohe soziale Rendite. | Interview: Gunnar Landsgesell
Im ersten Bezirk leben Menschen acht Jahre länger als in einem der ärmeren Bezirke am Gürtel. Wie ist so eine unterschiedliche Lebenserwartung innerhalb einer Stadt wie Wien zu erklären?
Die Zahl hat Martin Schenk von der Armutskonferenz vorgebracht. Die Erklärung liegt im deutlichen sozialen Gefälle in Österreich. 130.000 Kinder leben in Armut, 240.000 sind armutsgefährdet. Dass wir zugleich eine sehr hohe Lebenserwartung mit knapp über 80 Jahren haben, spricht in erster Linie für die aufwändige, technische Medizin, die das Leben verlängert. Unsere Gesundheitserwartung ist aber gering, die liegt bei etwa 60 Jahren. Da überholen uns 13 andere Länder in Europa, wo man zwar kürzer lebt, dafür aber mehr gesunde Lebensjahre verbringt. Die Gesundheitserwartung wird hauptsächlich vom gesunden Lebensstil, von der Prävention, von der Gesundheitsförderung bestimmt. Österreich wendet dafür nur etwa 2,3 Prozent des BIP der Gesundheitsausgaben auf, international sind es 5 bis 6 Prozent aufwärts. Das betrifft vor allem Kinder- und Jugendgesundheit. Alles was in der Kindheit an Kumulationsfaktoren für Krankheit mitgenommen wird, kann man später oft gar nicht mehr gut machen. Daraus erklären sich die acht Jahre Differenz an Lebenserwartung.
Von welchen Krankheitsbildern sprechen wir?
Gut dokumentiert sind Herz-Kreislauferkrankungen, die oftmals zum Tod führen. Sie sind das Ergebnis von Übergewicht, Stress, Diabetes. Wir wissen, dass Feinstaubbelastung und Asthma eine Rolle spielen. Menschen, die an Ausfallstraßen in billigen Wohnungen wohnen, sind davon besonders betroffen. Auch die Adipositas nimmt zu. Früher war ein molliger Mensch Ausdruck von Wohlstand, heute ist Übergewicht übermäßig in sozial schwachen Schichten verteilt. Auch das ist ein wichtiger Prädiktor für frühere Sterberaten. Es geht vor allem um Lebensstil-Probleme wie Ernährung, körperliche Bewegung, Alkohol und Nikotin. Diese Dinge sind ganz stark an Lebenszufriedenheit gekoppelt. Auch eine Befragung von 11-, 13- und 15-jährigen Schulkindern für die HBSC-Studie, (Health and Behaviour in School Children) zeigte das: die Raucherraten von Jugendlichen in Österreich bewegen sich parallel zur Zufriedenheit in der Schule. Die, die sich von den Lehrern unterstützt fühlen und ihre Leistungen bringen können, haben deutlich niedrigere Raucherraten. Rauchen ist ein Ventil für Stressabbau, kein Genussmittel, eine Hilfe zur Selbstberuhigung und Mutmacher, zum Dazugehören in der Peer-Group.
Würden Sie sagen, dass Kinder aus ärmeren Schichten stärker gestresst sind?
Ja, es gibt Belastungen durch dissonante Familienverhältnisse, Existenzangst, Arbeitslosigkeit, etc. Man kennt aber ein System dagegen, das nennt sich ‚Early Interventions‘, also ‚Frühe Hilfen‘, um schon bei der Geburt und im Kleinkinderalter belastete Familien zu unterstützen. In Deutschland gibt es eine Best Practice Stadt, Dormagen, dort hat man mittlerweile die geringsten Jugendwohlfahrtskosten in ganz NRW. Der social return of investment beträgt 1:18, weil man sich sehr viel spätere Betreuungskosten spart. So eine sichere, hohe Rendite finden Sie bei keiner Aktie. Dort wo Frühe Hilfen funktionieren, verzeichnet man die Hälfte der Kriminalitätsrate bei 19-Jährigen, die Hälfte an Kindesmissbrauch, es gibt deutlich weniger Fremdunterbringungen – der volkswirtschaftliche Wert ist enorm. Frau Meier-Gräve hat das einmal mit Lebenslaufszenarien untersucht und errechnet, dass es der Gesellschaft 400.000 bis 1 Mio. Euro pro Fall bringt, wenn man Kindern frühzeitig hilft.
Auf welche Weise interveniert man bei den ‚Frühen Hilfen’?
Wesentlich ist, dass jemand vertrauensvoll zu den Familien kommt und nicht als Kontrolle durch das Jugendamt wahrgenommen wird. Da fühlen sich die Leute eher entwertet. Die Idee wäre, dass das ein Standard wird und bei jeder Geburt ein Baby-Willkommens-Besuch stattfindet. In Dänemark macht man das schon lange, da erhielt auch die Königin Besuch nach ihrer Geburt. Wenn alles gut läuft, hinterlässt man bloß die Visitenkarte, bei Schwierigkeiten kann man gleich für die nächste Woche den nächsten Termin vereinbaren. In Vorarlberg funktioniert das seit fünf Jahren flächendeckend, das nennt sich dort ‚Netzwerk Familie‘. Die Bilanzen sind wunderbar, auch wir als Liga für Kindergesundheit haben mit fünf Bundesländern vor eineinhalb Jahren Modellprojekte gestartet, und zwar in Wien, Niederösterreich, Oberösterreich, Kärnten und der Steiermark. Diese Modellprojekte sind noch relativ klein dimensioniert, aber es geht um die ersten Erfahrungen für die Länder, in der Hoffnung, dass es später zu einer flächendeckenden Regelversorgung kommen wird.
Verzeichnen Sie Unterschiede zwischen Wien und der ländlichen Region?
Der Start war sehr unterschiedlich in den einzelnen Ländern, wir haben schon zwischen städtischen und ländlichen Regionen unterschieden. Für eine Evaluation über die teilnehmenden Familien ist der Zeitraum aber noch zu kurz. In Wien läuft das Projekt sehr gut, und zwar rund um das Wilhelminenspital im 15., 16. und 17. Bezirk, wo viele einkommensschwache, auch zugewanderte Familien wohnen.
Ist mangelnde Gesundheit primär eine Frage des Geldes?
Einerseits schon, dort, wo es fehlende Therapieplätze gibt. Wir haben in Österreich etwa 80.000 bis 100.000 fehlende Plätze für Physio-, Ergo-, Logo- und Psychotherapie. In den Ambulatorien gibt es teilweise bis zu eineinhalb Jahren Wartezeit, das ist verrückt bei einem vielleicht gerade akuten Problem. Die Betroffenen können dann nur auf den Privatmarkt ausweichen zu niedergelassenen Therapeuten, die nicht auf Krankenschein arbeiten. Das kann sich nur leisten, wer auch das Geld dafür hat. Keine Frage des Geldes, sondern ein riesiges Missverhältnis haben wir in anderen Bereichen, etwa bei den 7.700 Rehabilitations-Plätzen, die es für Erwachsene gibt. Für Kinder und Jugendliche haben wir zwischen 35 und 40, obwohl junge Menschen 20 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Wir bräuchten da eigene Zentren für Kinder. In der Hi-Tech-Medizin ist Österreich durchaus noch in der Weltspitze dabei, aber überall dort, wo es um Versorgung von chronischen Erkrankungen geht, um Gesundheitsförderung, um gesunde Lebensentwicklung, sind wir deutlich schlechter unterwegs.
Ihre Vermutung, warum das so ist?
Weil das schwerer zu „verkaufen“ ist. Vorsorge bietet kein spektakuläres Highlight, das man durch die Medien schicken kann. Kinder mit psychischen Problemen zu betreuen, ist eine mühsame Arbeit, für die es Menschen braucht. Da profitiert auch keine Industrie daran. Österreich hinkt diesbezüglich hinterher: In Deutschland gibt es die ‚Frühen Hilfen‘ seit 12 bis 13 Jahren, dort wurde ein großes nationales Zentrum eingerichtet, das die Projekte bundesweit koordiniert. Kindertherapien gibt es ohne jeden Selbstbehalt, das müsste in Österreich auch so laufen. Denn wir erleben die grundsätzlichen Veränderungen der Krankheitsbilder in allen Industrienationen, auch bei uns. Das Programm hätten wir etwa mit dem Budget für die kostenlose Zahnspange ausfinanzieren können – das wäre natürlich eine längerfristige Investition.
Wie erleben Sie die Problematik in Ihrer täglichen Arbeit?
Hochschwierig, weil ich eine Ambulanz im 10. Bezirk leite, wo wir den Patienten sagen müssen, dass wir leider eineinhalb Jahre Wartezeit auf Psycho- oder Ergotherapie haben. Das Kind ist aber 4 oder 5 Jahre alt und sollte vor der Schule noch die Therapie bekommen. Ich muss sie dann auf den freien Markt schicken, weiß aber, dass viele das finanziell nicht schaffen. Wir versuchen über den Kinderhilfsfonds, den wir gegründet haben, Überbrückungen zu schaffen, um doch noch einen kostenfreien Platz zu ermöglichen. Ich erlebe Familien, wie kürzlich wieder, wo von der Sozialversicherung ein Pflichtzuschuss für eine A-Schiene in der Höhe von 470 Euro bewilligt wird, das ganze medizinische Hilfsmittel aber 5.500 Euro kostet. Wo der Rest herkommt, ist die große Frage. Man kann vom Bundessozialamt bis zum Unterstützungsfonds der Krankenkasse Briefe schreiben, und vielleicht die Hälfte der Kosten abdecken. Findet man zusätzlich noch private Sponsoren, werden diese prozentuell von den offiziellen Förderungen wieder abgezogen. Am Ende ist das Kind ein halbes Jahr älter und das ganze Produkt passt nicht mehr. Ich beschreibe hier den oft ganz normalen Regelverlauf, nicht den komplizierten. Deshalb fordern wir einen One Stop Shop, wo Eltern sich an eine Stelle wenden, die alle administrativen Wege erledigt. Und zweitens brauchen wir eine Vollfinanzierung für Kinder- und Jugendgesundheit auch für sozial schwache Familien. Das muss in Österreich leistbar sein, ansonsten nimmt man einen schlechteren Outcome dieser Kinder im späteren Leben in Kauf.
Zum Aspekt des Bewusstseins bei Ernährungsfragen: Ist es Konsens, dass Übergewicht ein schichtspezifisches Phänomen ist?
Das wäre mir zu scharf formuliert, weil es auch übergewichtige Kinder von Besserverdienern gibt. Aber es stimmt, es gibt schichtmäßig eine Gewichtung. Vor allem lassen sich beim Bewusstsein und beim Wissen tatsächlich Schichtunterschiede feststellen. In der Bildungsgesellschaft greift man schneller zum Ratgeber und hat ein ‚schlechtes Gewissen‘, dass man bestimmte Dinge noch nicht geändert hat. Bei sozial Schwächeren gibt es immer wieder ein großes Unwissen. Beratung bringt da oft auch erfolgreiche Ergebnisse. Grundsätzlich ist Adipositas sehr oft aber auch ein Ausdruck von wenig innerer Balance, weil Essen eine Art der Befriedigungsmöglichkeit ist. Wenn es nicht mehr um Sättigung und Genuss geht, sondern man über das Maß hinaus isst, dann geht es auch um Ersatzbefriedigung anderer Bedürfnisse. Aber grundsätzlich zieht sich die Adipositas durch alle Bevölkerungsschichten. Die Kosten, die auf uns zukommen, sind so enorm, dass sie in 20, 30 Jahren vom Gesundheitswesen nicht mehr gestemmt werden können. Deshalb wäre der frühe Ansatz zur Gesundheitskompetenz so wichtig.
Sollte man nicht auch die Nahrungsmittelindustrie in die Pflicht nehmen?
Ja. Die Industrie ködert uns zunehmend mit hochkalorischer, überall und leicht verfügbarer Kost. Sie signalisiert, man braucht nichts mehr zu kochen, das fertige Menü um 4,50 Euro wartet im Supermarkt. Drastischer formuliert: Es hat weltweit keinen Diabetes gegeben, solange es keinen raffinierten Zucker gab. Es geht hier also einerseits um Armut und ungesunden Lebensstil, um psychische Balance und ein gesundes Selbstwertgefühl und zugleich um die industrielle Verführung, die viel beiträgt: die gesüßten Tees, die kein Baby braucht, die Alkopops für Jugendliche. Das, was man uns täglich industriell auf allen Ebenen zuführt, sollte einen Standard haben, der nicht auf Kosten der Gesundheit geht.
Gelingt es Kindern später, ihre Ernährungsgewohnheiten zu ändern?
Jetzt werde ich Sie sicher frustrieren, aber die Realität sagt: leider kaum. Die Adipositas-Lager bei 15-Jährigen zeigen, dass nahezu alle der Jugendlichen ein Jahr später dasselbe Gewicht haben wie ein Jahr zuvor. Mittlerweile wissen wir aus der Forschung, dass die Ernährungspräferenzen bereits intrauterin angelegt werden. Entscheidend ist also nicht, was die Mama kocht, sondern was sie während der Schwangerschaft gegessen hat. Darauf springen unsere Endorphine später an, darüber wird „Vertrauen“ hergestellt. Und auch die ersten 1.000 Tage sind sehr prägend. Was danach an Veränderungen möglich ist, braucht ein explizites Bewusstsein und funktioniert nur über Vernunftskonzepte. Das ist mit hohem Aufwand und Willen verbunden.
Die Medien sind voll von Gesundheitsthemen. Wie erklären Sie sich die Problematik, die Sie beschreiben?
Medien stürzen sich auf Themen, die gerade hip sind, die Absatz versprechen. Von all den Tipps und Tricks der Medien wird selten ein neuer Lebensstil kreiert, dem steht die Realität wesentlich wirkmächtiger gegenüber: 50 bis 60 Prozent Scheidungsraten; 1,3 Kinder pro Frau bedeuten, dass es nur mehr wenige Familien gibt, wo es zu Geschwistererfahrungen kommt, wo sich auch eine gewisse Gelassenheit beim 2. oder 3. Kind einstellt. Auch die Krippensituation ist nicht optimal: International empfohlen wird eine Betreuerin für maximal 3 Kinder. Wir haben in Wien 16 bis 18 Kinder mit 2 Betreuerinnen. Wenn man sich eine Mama mit 8 Zweijährigen vorstellt, die frühkindlichen Stress regulieren soll, trösten soll, gemeinsam etwas machen - das ist unmöglich. In der Schule wundert man sich dann später über „schwierige“ Kinder. Wir haben über 30 Prozent Erwachsene, z.B. auch Schwangere, die rauchen. Dass wir 30 Prozent Jugendliche haben, die rauchen, ist einfach ein Abbild der Gesellschaft. Die Politik ist deshalb gefordert, stärker auf Bewusstseinsbildung zu setzen, deutlich mehr Präventions- und Gesundheitsförderung zu initiieren und kostenfreie Versorgung für Kinder zu garantieren. Wir brauchen in der Allgemeinversorgung und in den Schulen interdisziplinäre Gesundheitskompetenzzentren, wir müssen die Botschaften dorthin bringen, wo die Menschen sind.
ZUR PERSON
Dr. Klaus Vavrik, 1961 in Wien geboren, ist ärztlicher Leiter des Sozialpädiatrischen Ambulatoriums Fernkorngasse im 10. Wiener Bezirk. Er arbeitet als Kinder- und Jugendarzt, KJ-Psychiater und Psychotherapeut. Vavrik ist zudem Präsident der Österreichischen Liga für Kinder- und Jugendgesundheit. www.kinderliga.at
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