Schulhaft
WELT. Kommen Eltern in Haft, weil ihre Kinder die Schule geschwänzt haben? Seit letztem Schuljahr ist ein neues Verfahren in Kraft, das Schulverweigerung stufenweise ahndet. Nicht immer wird es wie vorgesehen umgesetzt. Text: Adrian Engel
Der Zug an der Zigarette ist heute anders als gestern. Bernhard* ist jetzt 16 Jahre alt. „Das muss er natürlich gleich zeigen“, sagt seine Mutter zur Pädagogin. Ihr Sohn rauche noch fertig und werde dann gleich bei der Tür reinkommen. Täglich besucht der nun Sechzehnjährige die Grazer SOS-Kinderdorf-Wohngruppe, wo ihn PädagogInnen schulextern unterrichten. Das Projekt SOS-School-Beaming unterstützt ihn bei seinem Pflichtschulabschluss. Es ist, als würde er in die Schule gehen, nur dass der Unterricht in 26 eigenen Räumen in Kleinstgruppen oder einzeln stattfindet. „Arbeite aktiv im Unterricht mit, so ersparst du dir später Zeit beim Lernen“, lautet einer der Lerntipps auf der beklebten Türe des größten der drei Räume.
SOS-School Beaming widmet sich seit 2009 Kindern und Jugendlichen, die nicht in die Schule gehen wollen oder sich dort überauffällig verhalten. Die meisten der betreuten Kinder und Jugendlichen sind in einer SOS-Kinderdorf-Wohngruppe untergebracht, Bernhard ist einer von drei betreuten Jugendlichen, die bei ihren Eltern wohnen. Sie sind die Ältesten und gehören zur Gruppe der Schulverweigerer. Die anderen, jüngeren Kinder wollen in die Schule gehen, „haben aber eine geringe Frustrationstoleranz oder eine kurze Aufmerksamkeitsspanne“, erklärt die Projektleiterin Margarethe Krbez.
Bernhard hingegen wollte nicht mehr in die Schule gehen. Seinen Vater sah er kaum, in der Schule sah er sich von groben Lehrerinnen unter Druck gesetzt, die alleinerziehende Mutter kämpfte mit dem Burn Out. Irgendwann blieb Bernhard zu Hause in seinem Zimmer – auch mehrere Schulwechsel änderten das nicht. Seiner Mutter wurde mit der Zeit eine Strafe angedroht. Seit dem Schuljahr 2013/14 tritt bei Schulpflichtverletzungen ein Verfahren in Kraft, „im Fall des nicht regelmäßigen Schulbesuchs im Ausmaß von fünf Tagen, 30 Unterrichtsstunden in einem Semester oder drei aufeinanderfolgenden Tagen unentschuldigten Fernbleibens vom Unterricht“. Ein sogenannter Fünf-Stufen-Plan sieht dann zunächst verpflichtende Gespräche zwischen Eltern und SchülerInnen mit der Lehrperson vor. In der zweiten Stufe werden SchulpsychologInnen oder SchulsozialarbeiterInnen hinzugezogen. Zeigen die Gespräche nach wie vor keine Wirkung, informiert der Direktor die Eltern über die rechtlichen Konsequenzen der Schulabstinenz. Zusätzlich werden in der nächsten Stufe Schulaufsicht und eventuell Jugendwohlfahrt eingeschalten. Wirkt das alles nicht wie gewünscht, kann es auch zu Verwaltungsstrafen kommen.
Geldstrafe angedroht
Die aktuelle Regelung geht auch auf eine Studie von AK und Uni Linz im Jahr 2012 zurück. Darin kam man unter anderem zum Ergebnis, dass 40 Prozent der betroffenen Jugendlichen aus bildungsfernen Schichten kommen. Jeder fünfte Jugendliche mit Migrationshintergrund gehöre dieser Gruppe an. Tatsächlich ist der Anteil an migrantischen Kindern statistisch jedoch nicht nachzuweisen. SchulsozialarbeiterInnen und die School-BeamingVerantwortlichen weisen aber darauf hin, dass der Migrationshintergrund nicht so eine große Rolle spielt wie Bildungsnähe bzw. Bildungsferne der Eltern. Staatssekretär Sebastian Kurz hatte damals jedenfalls die Schulabstinenz auf seine Agenda genommen und sich damals auf die Studie berufen, um ein geregeltes Verfahren und auch höhere Strafen zu fordern. Analog zur Studie forderte er verpflichtende Elterngespräche, eine genaue statistische Erhebung und die Erforschung der Ursachen. Ursprünglich sprach sich Kurz auch für eine Höchststrafe von 1.500 Euro aus. Bildungsministerin Schmied fand relativ schnell einen Konsens, allerdings sprach sie sich lediglich für eine Verdoppelung der Strafe von 220 auf 440 Euro aus. Das Gesetz ging dann relativ rasch durch den Ministerrat. Nun drohen Eltern von Schulschwänzern also Bußgelder bis zu 440 Euro. Im vergangenen Jahr wurden nicht wenige Verfahren eingeleitet. Insgesamt 2.353 Strafen wurden 2013 bundesweit verhängt. In 84 Fällen gingen die Eltern sogar als Ersatzfreiheitsstrafe für wenige Stunden ins Gefängnis.
Eine Zahl, die für das „Delikt“ Schulschwänzen verhältnismäßig hoch erscheint. Schulsozialarbeiter Robert Kern relativiert: „Ich habe noch nie erlebt, dass Eltern eine Strafe tatsächlich zahlen mussten. Ich glaube, dass es selten dazu kommt. Es wird in den Medien eher so präsentiert, als wäre es die Praxis, ist aber nicht häufig der Fall.“ Robert Kern arbeitet seit drei Jahren an mehreren Neuen Mittelschulen in Graz. Tatsächlich hatten Medien die Berichte über relativ hohe Anzahl von freiwilligen Kurzzeit-Haftantritten später berichtigt. Es sei in Kärnten doch nur zu drei anstatt der auf parlamentarische Anfrage genannten 29 Inhaftierungen gekommen, das bestätigt auch die Erfahrungen des Sozialarbeiters Kern. Doch auch die Ersatzfreiheitsstrafen, zu denen es bundesweit tatsächlich kam, sind keineswegs zu vernachlässigen. Der Fünf-Stufen-Plan scheint nicht immer ausreichend zu greifen. Die Mutter von Bernhard fühlt sich schlecht beraten. „Bei den Gesprächen geht es nur darum, dass man über den Stufenplan und die Strafe aufgeklärt wird. Alle erzählen einem das Gleiche, aber am Ende bekommt man doch eine Strafe. Was hilft das dem Kind?“ Sie erzählt, dass ihr die Geldstrafe vom Schuldirektor in scharfem Ton angedroht wurde. Auch in der Schule, die ihr Sohn zuvor besucht hatte, habe sie keine besseren Erfahrungen gemacht: „Die Direktorin meinte: ‚Ich habe selbst drei Kinder und bei denen gäbe es das nicht. Das sei alles eine Frage der Erziehung. Für mich war es das Schlimmste, wie ich vom Schulpersonal angeschaut wurde. Ich bin ja die Böse, die es nicht schafft, ihr Kind unter Kontrolle zu bringen.“
Präventiver Effekt umstritten
Wie erfolgreich das Theorie-Modell „Fünf-Stufen-Plan“ ist, entscheidet sich letztlich in der Praxis, wie School-Beaming-Leiterin Krbez erklärt: „Es hängt immer davon ab, wie die Schule den Plan umsetzt und mit den Eltern redet. Sucht die Schule mit den Eltern Lösungen oder geht es ihr darum, sie her zu zitieren? Das wird ganz unterschiedlich umgesetzt.“ Dass der Ton in den Gesprächen zwischen autoritärer Aufklärung und gemeinschaftlicher Problemlösung pendelt, lässt auch Kern heraushören: „Es besteht keine Garantie, dass aufgrund der Anwesenheit von Sozialarbeitern beim Gespräch optimale Kooperation zwischen den Beteiligten stattfindet.“
Inwiefern Strafen oder deren Androhung einen präventiven Effekt haben, beurteilen sowohl der Schulsozialarbeiter als auch die School-Beaming-Leiterin zurückhaltend. Beide können es sich vorstellen. Beide sind sich jedoch auch einig: Kinder gehen nicht wieder in die Schule, wenn ihre Eltern eingesperrt werden. „Man müsste mehr in die unterstützende als in die strafende Richtung gehen. Es hilft den Jugendlichen nicht, die Eltern einzusperren. Es ist sicher zielführender, Schulen überlegen sich, wie sie gut auf Jugendliche zugehen können. Es ist manchmal notwendig, dass man auch nachgeht, wenn jemand nicht in die Schule geht“, sagt Krbez.
Konkret bräuchte es aus Sicht der School-Beaming-Leiterin verstärkt schulpsychologische Angebote und einen Ausbau der Schulsozialarbeit. Ideen und Konzepte für Eltern, die oftmals nicht wissen, wie sie auf die Schulabstinenz ihrer Kinder reagieren sollen, würden ausreichend bestehen. Umgesetzt würden sie weniger ausreichend. „Es gibt keinen Satz, den ich am Tag öfter sage als ‚Ich habe jetzt gerade keine Zeit‘. Es gibt Tage, an denen wollen dreißig Kinder zu mir kommen. Das geht sich nie und nimmer in den viereinhalb Stunden aus, in denen ich dort bin“, erzählt Robert Kern, der unter anderem gemeinsam mit einer Kollegin eine Schule betreut, die von 150 Kindern besucht wird.
Richtige Umsetzung
Mehr Geld für soziale Betreuung in der Schule wird es in naher Zukunft nicht geben – sowohl auf Bundesebene als auch auf Länderebene und in den Städten. „Wir haben einfach zu wenig Geld für weitere Schulpsychologen“, sagte Bildungsministerin Gabriele Heinisch-Hosek kürzlich im Interview mit der Tageszeitung Der Standard. Bernhard und die zwei anderen von SOS-School-Beaming extern betreuten Jungs werden ab kommendem Jahr vielleicht von einer anderen Einrichtung betreut, weil sich die Finanzierung durch die Stadt Graz ändert. Sie werden ihren Abschluss eventuell nicht bei School-Beaming machen können, das in der Intensität der Betreuung einzigartig ist.
Eine zusätzliche Forderung, die in der Debatte rund um Schulabstinenz stetig aufflammt, sind Ganztagsschulen. „Es braucht aus meiner Sicht unbedingt Ganztagsschulen“, sagt Kern. Denn die Schule solle „ein Lebensort“ sein. Doch auch in dieser Debatte mache den Erfolg die Umsetzung aus, erklärt Krbez: „Ich glaube, dass Ganztagsschulen eine gute Lösung sein könnten. Aber wenn dann wieder eine Lehrerin für 20 Kinder zuständig ist, dann erhöht das die Problematik nur. Wenn das System nicht ermöglicht, individuell auf das Kind einzugehen, bringt die Ganztagsschule nichts.“ Bis in Österreich die Ganztagsschule eingeführt wird, hat Bernhard wohl schon seinen Pflichtschulabschluss geschafft. Die Ganztagsschule ist bekanntlich ein fundamentales Streitthema zwischen der befürwortenden SPÖ und der ablehnenden ÖVP. Es scheint daher nicht unwahrscheinlich, dass Bernhard auch schon seine Wunschausbildung zum Fitness-Trainer geschafft hat, wenn die österreichischen Schüler täglich bis späten Nachmittag in der Schule gehen.
*Name von der Redaktion geändert.
Unterstützen Sie jetzt unabhängigen Menschenrechtsjournalismus mit einem MO-Magazin-Solidaritäts-Abo