Man bräuchte zehn Arme
DOSSIER. Jedes vierte Kind in Österreich hat heute eine andere Umgangssprache als Deutsch. Volksschulen stellt das vor große Herausforderungen. Die LehrerInnen werden darauf aber nur ungenügend vorbereitet. Was läuft schief in diesem Betrieb? Reportage: Clara Akinyosoye, Illustrationen: Eva Vasari
Vor einer Wiener Volksschule tummeln sich Kinder. Es ist kurz vor zwölf Uhr an einem Freitag. Ein Schultag ist zu Ende gegangen. Ein junges Mädchen in einem pinkfarbenen Kleid mit langen schwarzen Haaren und hellbrauner Haut gluckst vor Freude. Ein großer Mann mit dunklen Haaren hat sie von der Schule abgeholt. Wer einen Blick auf diese Schulkinder und ihre Eltern wirft, merkt: Wien ist längst zur multiethnischen Metropole geworden. In den Volksschulen sind mehrsprachige Kinder keine Seltenheit mehr. 100 Sprachen insgesamt, wobei ein Großteil Bosnisch/Kroatisch/Serbisch oder Türkisch spricht.
In Österreich hatte laut Statistik Austria im Schuljahr 2012/2013 jedes vierte Volksschulkind eine andere Umgangssprache als Deutsch. Das sind in Zahlen rund 84.000 Kinder. Allein in Wien sind es mehr als 35.000. Die Tendenz ist steigend. Wobei es hier in den verschiedenen Bezirken große Schwankungen gibt. Während in Hietzing Deutsch für etwa jeden Fünften eine Zweit- bzw. Fremdsprache ist, trifft das in Margareten auf neun von zehn Kindern zu. Laut dem Nationalen Bildungsbericht 2012 gingen im Schuljahr 2009/2010 nur noch 25 Prozent aller Volksschüler in Klassen, in denen alle SchülerInnen ausschließlich Deutsch sprechen.
Grundsätzlich werden die Klassen immer heterogener. Dort sitzen Kinder aus unterschiedlichen sozialen Schichten, mit verschiedenen Begabungen und Sprachständen, mit unterschiedlichen Wurzeln. Allein die Tatsache, dass ein Kind Deutsch nicht als einzige Umgangssprache hat, bedeutet nicht zwingend, dass es der deutschen Sprache nicht mächtig ist. Doch Fakt ist: Viele mehrsprachige Kinder haben oft noch Defizite in der deutschen Sprache, die in der Volksschule ausgeglichen werden sollen. Das stellt Lehrer und Lehrerinnen vor große Herausforderungen. Und es ist auch ein gewisser Druck zu spüren. Bewilligungen des Stadtschulrats für Gespräche sind nicht leicht zu bekommen, LehrerInnen selbst haben Sorge, dass ihre Worte politisch instrumentalisiert werden könnten. Man erinnere sich an eine rüde geführte Diskussion unter dem Schlagwort „Ghettoklassen“.
Heterogene Klassen
Tamara Schneider (Name von der Redaktion geändert) arbeitet seit drei Jahren als Volksschullehrerin im 10. Bezirk, wo der Anteil mehrsprachiger Kinder im Durchschnitt rund 70 Prozent beträgt. Bei Schneider ist die Quote höher. Von 25 Kindern haben 23 eine andere Erstsprache als Deutsch. Die meisten haben türkische Wurzeln.
Der hohe Anteil machte ihr anfänglich noch Sorgen: „Ich dachte, ich komme in die Klasse und verstehe kein Wort“, erzählt Schneider. Das war aber nicht der Fall. Der Großteil der Kinder kann sich gut oder zumindest ausreichend auf Deutsch verständigen. Ein paar wenige hatten gröbere Probleme, sich mitzuteilen. Wenn sie nicht mehr weiterwusste, halfen ihr die SchülerInnen. „Ich hab ein paar Kinder in der Klasse, die perfekt übersetzen können.“ Im ersten Jahr, wo es in erster Linie darum gehe, Schreibübungen zu machen und ein Gefühl für Mengen zu bekommen, sei mangelhaftes Deutsch noch kein allzu großes Problem, sagt Schneider. Schwierig wird es, wenn es darum geht, Lesen und Schreiben zu lernen.
Der Bedarf an sprachlicher Förderung ist jedenfalls gegeben. Seit Anfang der 1990er Jahre sind der Deutsch-Förderunterricht und muttersprachlicher Unterricht Teil des Regelunterrichts. Wie die Schulen den Unterricht gestalten, bleibt ihnen überlassen. Entweder werden die Kinder aus der Klasse genommen und bekommen parallel Unterricht oder Klassen- und BegleitlehrerInnen unterrichten im Team. So kann individuell auf die SchülerInnen eingegangen werden. Das Ausmaß an Förderstunden ist gesetzlich geregelt. Höchstens fünf Stunden sind für die SchülerInnen veranschlagt. Kinder, die so wenig Deutsch sprechen, dass sie dem Unterricht nicht folgen können, werden als „außerordentliche Schüler“ aufgenommen. Für sie sind mehr Stunden vorgesehen.
Wer kann, wählt die Privatschule
Der Wiener Stadtschulrat gibt an, dass in der Bundeshauptstadt rund 2.500 Kinder elf Deutsch-Förderstunden pro Woche erhalten. Bei 20 bis 25 Unterrichtsstunden pro Woche wäre das die Hälfte der Unterrichtszeit. Rechnet man aber die sieben ohnehin für alle im Lehrplan verankerten Deutschstunden mit, kommt man de facto auf nur vier Extrastunden Förderunterricht. Doch auch die seien nicht in Stein gemeißelt, sagt Thomas Bulant, Vorsitzender der Gewerkschaft für PflichtschullehrerInnen. Falls LehrerInnen krank sind und suppliert werden müssen, würden die BegleitlehrerInnen dafür abgezogen. Der Förderunterricht entfällt dann einfach.
Wie viel Deutsch-Förderunterricht in Österreich tatsächlich abgehalten wird, ist nicht so einfach zu ermitteln. Im Gegensatz zum muttersprachlichen Unterricht sind die Gelder, die die Bundesländer dafür erhalten, nicht zweckgebunden. Ob die Mittel für Sprachförderung oder andere Zwecke ausgegeben wurde, muss dem Bund nicht nachgewiesen werden, sagt das Bildungsministerium. Daher findet auch keine statistische Auswertung statt. Der Gewerkschafter Bulant kritisiert das. Die Mittel aus dem Finanzausgleich, so Bulant, kommen nicht zur Gänze dort an, wofür sie gedacht sind. In den Bundesländern werden zum Beispiel Kleinstschulen gegenfinanziert, in Wien Sonderschulen.
Groß ist ungeachtet dessen der Anspruch, der an VolkschullehrerInnen gestellt wird. Sie sollen Sprachdefizite ausbessern, Kinder individuell fördern und im besten Fall für die AHS fit machen. Ist das zu viel verlangt? Wenn es nach Thomas Bulant geht, ja. Die LehrerInnen seien mit der Situation überfordert. Es gäbe eine geringe Durchmischung der Schulen. „Wer es sich leisten kann, schickt sein Kind in eine Privatschule“, sagt Bulant. Eigentlich sollten in den ersten zwei Jahren die Klassen doppelt besetzt sein, Ressourcen würden dafür aber nicht bereitgestellt. Unter den aktuellen Bedingungen könne Chancengleichheit deshalb auch nur schwer gewährleistet werden. Es sei nahezu unmöglich, Kinder, die Probleme mit der deutschen Sprache haben, in vier Jahren fit für das Gymnasium zu machen. „Irgendwann investiert man dort, wo es mehr Erfolgschancen gibt“, gesteht Bulant ein. „Ganz unbewusst.“
„Belastete“ Schulen
Michael Bruneforth vom BIFIE hat sich mit der Frage beschäftigt, welcher Zusammenhang zwischen sozialem Background und der individuellen Schulleistung besteht. Er hat für jede Schule einen Belastungsindex erstellt, der anhand von Risikofaktoren aufzeigt, wie sich Schulen mit hoher Belastung in Österreich verteilen. Wenn in eine Schule vermehrt Kinder gehen, die Deutsch nicht als Alltagsprache nutzen, deren Eltern maximal einen Pflichtschulabschluss oder einen niedrigen Berufsstatus haben, sei die Schule besonders belastet. Für einen urbanen Raum wie Wien trifft das in besonders hohem Maß zu. Bruneforth: „Diese Schulen bleiben systematisch hinter anderen Schulen zurück.“ Heißt konkret: Wer in eine solche Schule geht, hat bereits schlechtere Chancen. Auch Kinder aus bildungsstärkeren Familien würden in solch einer Schule schlechtere Leistungen erbringen, sagt Bruneforth. Der Wissenschaftler kritisiert aber auch, dass in vielen Analysen eine Fokussierung auf Migration und Mehrsprachigkeit gelegt werde. Die Frage der sozialen Klasse, der Benachteiligung von sozialen Unterschichten, werde vernachlässigt. Eine Lösung für mangelnde Bildungsgerechtigkeit könne daher nicht allein in der Sprachförderung von Kinder mit nichtdeutscher Umgangssprache liegen. „Wir müssen die Ursache beheben.“ Adäquate Finanzierung, Sprachförderung, Muttersprachenunterricht, verstärkte, mehrsprachige Elternarbeit, ein inklusives ganztägiges Schulsystem, das benachteiligte SchülerInnen tatsächlich auffangen kann. Die Lösungsvorschläge sind so vielfältig wie die Baustellen.
Ein Schritt könnte eine indexbasierte Finanzierung des Schulsystems sein. Johann Bacher, Soziologe an der Johannes Kepler Universität in Linz, hat so ein Modell entwickelt. Schulen bekämen nicht nur nach dem Gießkannenprinzip Geld pro Kopf, sondern eine Basisfinanzierung plus Extramittel je nach „Belastung“. Was in anderen Ländern bereits umgesetzt ist, wird hierzulande erst diskutiert.
Politik der kleinen Schritte
LehrerInnen wie Cornelia Wimmer (Name von der Redaktion geändert) würde das wahrscheinlich helfen. Die Volkschullehrerin arbeitet seit bald 12 Jahren im 20. Bezirk. In Brigittenau haben mehr als 80 Prozent der SchülerInnen noch eine andere Umgangssprache als Deutsch. Wimmer hat momentan einige Kinder mit Deutschschwierigkeiten in der Klasse, viele davon aus türkischem Elternhaus. „Die Eltern können teilweise nicht schreiben und kaum Deutsch“, sagt Wimmer. Die Lehrerin ist unzufrieden: „Du sollst am besten zehn Arme haben.“ Wenn SchülerInnen nicht wissen, ob es der oder das Hund heißt, fällt es schwer, einen Aufsatz zu schreiben. Das ist ein Problem“, sagt Wimmer. Man schummle die Kinder mitunter durch, schenke ihnen Noten. Wenn Kinder sitzenbleiben, werde das nicht gern gesehen. Viele verlieren durch die Vorschule ohnehin ein Jahr. Der Anteil mehrsprachiger Kinder in der Vorschule ist im Vergleich zu dem Anteil in der Volksschule überproportional gestiegen. Er liegt derzeit bei über 50 Prozent.
Die Volksschulen sind mehr und mehr dazu übergegangen, Kinder mit Deutschdefiziten in die Vorschule zu schicken, wo sie verstärkt gefördert werden. Der Wiener Stadtschulrat hat das vergangenes Jahr als Maßnahme zur Sprachförderung bezeichnet. KritikerInnen orten darin „Ghettoklassen“ und sehen das als negative Entwicklung. Auch Wimmer kritisiert die Maßnahmen: „Man schickt die runter, die nicht Deutsch können oder irgendwie auffällig sind.“ Sie sieht darin ein Zeichen der Überforderung für eine Entwicklung, die bereits vor einigen Jahrzehnten eingesetzt hat.
Doch die Lehrerausbildung hat sich diesbezüglich nicht maßgeblich weiterentwickelt. In der Pädagogischen Hochschule Wien zeigt man sich selbstkritisch. „Es geht nur zögerlich voran“, sagt Elisabeth Furch, Lektorin und Mitverantwortliche für die Kompetenzstelle für Mehrsprachigkeit und Migration an der PH Wien. An der Erstellung eines Curriculums sind der Bund, die Länder und die Hochschulen beteiligt. „Die Frage ist, welche Studieninhalte man weglassen kann, um Neues reinzubringen“, sagt Furch. Bisher dürfte die Antwort „Kaum bis keine“ gewesen sein. Denn der Großteil des eher geringen Angebots für interkulturelle Pädagogik und sprachliche Bildung ist im Bereich der Wahlpflichtfächer angesiedelt. Das soll sich jetzt mit der neuen Lehrerausbildung ändern. Ab 2015/2016 soll die Ausbildung vier statt drei Jahre dauern – reichlich Spielraum, der auch für die Aufnahme von Lehrinhalten zu Mehrsprachigkeit genutzt werden soll. In der Lehrerfortbildung sei man freier. Dort gibt es Seminare zur Vermittlung von Deutsch als Zweitsprache. Doch gerade am Beginn der Lehrtätigkeit wählen viele JunglehrerInnen Fortbildungen, die ihnen die Anfänge in der Schule erleichtern sollen.
Die Bildungspolitik ist eine der kleinen Schritte. An Reformideen mangelt es nicht. Volksschullehrerin Tamara Schneider kann sich eine sechsjährige Volksschule vorstellen. In den meisten europäischen Ländern ist das bereits Standard. Der Übergang von der Kindheit zum kleinen Erwachsenen in der Sekundarstufe erfolgt derzeit zu abrupt, sagt Schneider. „Ich hätte die Kinder gern länger bei mir.“ Auch die Kinder würden wahrscheinlich gern länger bleiben. Für viele ist das Klassenzimmer vier Jahre lang ein zweites Zuhause. Auf der grünen Tafel stehen Anweisungen für den morgigen Ausflug. An den Wänden hängen Bilder und weiße Blätter mit allen Buchstaben. Und aus den riesigen Holzkästen ragt buntes Papier – zum Zeichnen und Basteln. Hinter den 25 kleinen Tischen und Miniaturstühlen ist eine IT-Zone mit zwei Computern eingerichtet. Gleich neben der Kuschelecke, die aus einer Matratze, Decke und Polstern besteht – für den Fall, dass es einem mal nicht so gut geht. So kuschelig wie hier haben es die Kinder in der Schule wohl nie mehr.
Unterstützen Sie jetzt unabhängigen Menschenrechtsjournalismus mit einem MO-Magazin-Solidaritäts-Abo