Wer fürchtet die Sozialtouristen?
POLITISCHE INSZENIERUNGEN. Viel zu lange schon kocht in mehreren EU-Ländern die Debatte über angebliche „Sozialtouristen“ aus dem Osten. Eine Scheindebatte, die den Blick auf Armutsfragen verstellt.
Kommentar: Michael Landau
Vor wenigen Tagen besuchte ich einige Projekte der Caritas in Rumänien. Ich begegnete Familien, die in unbeheizten Häusern leben. Ich lernte Kinder wie die achtjährige Adriana kennen, die auf warme Mahlzeiten angewiesen sind, die wir in unseren Familienzentren verteilen. Wenige Autostunden von Wien entfernt gibt es heute ein EU-Mitgliedsland, in dem jedes zweite Kind in Armut lebt. Auch in Bulgarien, Armenien und der Ukraine ist Kinderarmut ein Stück Realität. Die Not ist in diesen Ländern allgegenwärtig. Mit diesen Erfahrungen im Gepäck erscheint mir die „Sozialtourismus“-Debatte, die seit einem Jahr in Europa tobt, noch grotesker als zuvor.
Im April 2013 schrieben die Innenminister aus Großbritannien, den Niederlanden und Deutschland gemeinsam mit ihrer österreichischen Amtskollegin einen Brief nach Brüssel. Auf wenigen Zeilen beschworen sie das Bild von Menschen, die in Scharen ihre Heimat im Osten verlassen, um sich in den Sozialstaaten im Westen ohne Arbeit einzunisten. Konkrete Zahlen blieben sie schuldig.
Die Debatte war nicht mehr aufzuhalten – auch dadurch nicht, dass die Innenministerin selbst betonte, Österreich wäre von dem Phänomen gar nicht betroffen, da Armutsflüchtlinge hierzulande keinen Rechtsanspruch auf Sozialleistungen haben. Eine Studie der EU-Kommission kam zu dem Schluss, dass in der EU „der sogenannte Sozialtourismus weder weit verbreitet noch systematisch erkennbar“ sei (O-Ton Sozialkommissar László Andor). Und in Deutschland stellten Experten klar: Der angebliche Flächenbrand ist ein Nicht-Problem. Unser Nachbar profitiert von der Zuwanderung aus Rumänien und Bulgarien. Am Ende wurde das Wort „Sozialtourismus“ zu Recht zum Unwort des Jahres 2013 gewählt.
Doch wie konnte es so weit kommen? Ich bin überzeugt: Die Debatte ist Ergebnis politischer Inszenierung und Ausdruck allgemeiner Verunsicherung. Sie fällt auf fruchtbaren Boden, weil sich die Menschen sorgen. Es ist die Sorge vor griechischen Verhältnissen in Österreich. Die Angst vor rumänischen Staatsfinanzen in Deutschland und vor einer bulgarischen Arbeitslosenquote in Großbritannien.
Diese Ängste sind in Zeiten steigender Arbeitslosigkeit ernst zu nehmen. Doch sie dürfen den Blick auf bestehende Ungerechtigkeiten nicht verstellen. Diese Ängste dürfen uns nicht taub machen und nicht lähmen, wenn Menschen ihre Heimat verlassen und in Berliner Parks oder in Wiener oder Grazer Obdachlosenasylen stranden. Gerade auch dann nicht, wenn gleichzeitig Hunderttausende ÖsterreicherInnen von ihrem Recht Gebrauch machen und im europäischen Ausland ihr Glück versuchen. Wir müssen die Armut bekämpfen, nicht die Armen. Das gilt auch und vor allem in einem vereinten Europa.
Papst Franziskus kritisiert zu Recht, dass der Kältetod eines alten Mannes in der Ukraine heute kein Skandal mehr ist, eine negative Entwicklung der Börsen um wenige Prozentpunkte aber sehr wohl. Die Weichen in Richtung Sozial- und Solidaritätsunion müssen heute gestellt werden. Europa mag heute noch immer der wohlhabendste Kontinent der Welt sein, doch der Blick nach Rumänien oder in Obdachloseneinrichtungen wie die „Gruft“ macht deutlich: Längst nicht alle Menschen profitieren von diesem Wohlstand.
Heiner Geißler, CDU-Generalsekretär der Ära Kohl, hat einmal gesagt: „Die Behauptung, es gebe kein Geld, stimmt nicht. Es gibt Geld wie Dreck. Es haben nur die falschen Leute.“ Die Frage ist also nicht, was wir uns leisten können, sondern was wir uns leisten wollen. Ich bin überzeugt: Wir müssen ein solidarisches Europa wollen, in dem nicht nur untergehende Banken, sondern auch Menschen in Not gerettet werden.
ZUR PERSON
Michael Landau
Michael Landau, 1960 in Wien geboren, studierte Biochemie und später Philosophie und Katholische Theologie. Er schloss beide Studien mit einem Doktortitel ab. 1986 trat er in das Priesterseminar ein. Landau ist seit 2013 Präsident der Caritas Österreich