Martin Schenk über Marketing- und Vernebelungsmaschinen
Das Neue an sich hat eigentlich keinen Wert. Dass es niemand merkt, schießen die Marketing- und Vernebelungsmaschinen aus dem Boden.
EINE KOLUMNE VON MARTIN SCHENK
Der Kaiser ist nackt!“, ruft ein kleines Kind, während alle so tun, als würde der Kaiser mit seinen schönsten Kleidern spazieren gehen. Das Märchen erzählt von zwei Betrügern, die allen erklären, dass die Gewänder nur die sehen können, die des Amtes würdig und nicht dumm sind. Dabei haben sie abgecasht und dem Kaiser Kleider aus Luft genäht. Liest man die Begründungen für Sozialpreise, vertieft man sich in die Managementliteratur, glaubt man den Karriereseiten in den Zeitungen, beobachtet man den neuen Zirkus um die Social Entrepreneurs, dann kann man gar nicht anders als zum Schluss kommen: Das Alte ist schlecht, nur das Neue gut. Das eine ist von gestern, das andere verweist auf morgen. Alles super neu und innovativ. Natürlich brauchen wir im Leben gute Ideen, bedarfsgerechte Angebote, respektvolle Unterstützung und Mut zur Veränderung. Aber ist das entscheidende Kriterium, dass etwas neu ist? Und was steckt hinter der Innovation?
Mir scheint, dahinter verbirgt sich auch ein gerüttelt Maß an Ideologie. Was unter der Fahne der „Innovation“ segelt, bietet bei näherer Betrachtung oft nichts Neues unter der Sonne. Es behauptet nur Originalität, obwohl es aus dem Alten schöpft. Das Neue ist gar nicht neu, sondern das peppig aufgemascherlte Altbekannte. Da schießen die Marketingund Vernebelungsmaschinen aus dem Boden. Verdächtig ist das Wörtchen „Innovation“. Aus der Botanik kommend beschreibt es das Abschneiden der alten Triebe. Auf die Gesellschaft umgelegt ist das ein brutaler Vorgang, der das Neue durch die Vernichtung des Alten hervorzubringen glaubt. Und der vergisst, dass viele Neuerungen erst durch Rückschau möglich wurden. Die Vorsilbe „re“ leitete das Neue ein: Re-volution, Re-form, Re-naissance und Re-formation. Nichts Neues ohne das Alte.
So werden Gegenwartskrisen niemals aus Irrtümern erklärt. Krisen sind in dieser Lesart immer Resultate eines Neuigkeitsmankos. War zu wenig neu. Die Frage nach dem Neuen hat die alten Fragen nach der Wirklichkeit und die Fragen nach dem guten Leben abgelöst. Das ist eine besinnungslose Ideologie, eine autoritäre Versuchung, die sagt: Schluss mit der Diskussion, Schluss mit Fragen. So ist es. Wir denken nicht, wir tun. „Das Neue will keine Alternative, keine Möglichkeit, sondern eine alles ausschließende Notwendigkeit sein“, analysiert der Philosoph Konrad Paul Liessmann. Es „kennt keine Bedenkzeiten, kein Innehalten, kein Abwägen, keine Muße. Das Neue erscheint deshalb auch mit Vorliebe in der ideologischen Gestalt eines Sachzwangs, dem man sich nur um den Preis selbst verschuldeten Zurückbleibens widersetzen könnte.“ Was nicht neu ist oder sich als neu präsentieren kann, hat keinen Wert – und sei es auch noch so gut. Das Einzige, was es gegenüber dem Alten in die Waagschale zu werfen hat, ist nicht unbedingt das Bessere, sondern eben: Es ist etwas Neues. Das Kleid aus Luft genäht.