Spaziergänge im Unbewussten
Hysterie und Burn-out: Die Welt geht unter die Haut und schneidet sich ins Seelenfleisch. Was passiert, wenn aus guten Jobs mit Anerkennung miese mit geringem Handlungsspielraum werden. Eine Kolumne von Martin Schenk.
Sie schreit und kreischt, krümmt sich, das Kinn kippt nach vorne, der Körper schüttelt sich – die schöne Keira Knightley im Kino einmal ganz schiach. Der Film „A Dangerous Method“ widmet sich der Königin der Neurosen vor hundert Jahren, der Hysterie. Die gefährliche Methode ist die Psychoanalyse. Die Spaziergänge im Unbewussten legen eine Welt frei, die im Körper Innen und Außen verschmelzen lassen. Die Welt geht unter die Haut und schneidet in die Körper. Die bürgerliche Sexualmoral samt Ohnmachtsposition von Frauen mischt sich unters Seelenfleisch. Frauen hatten anmutig, tugendhaft, asexuell, rein und kontrolliert zu sein. In ihnen sollte sich das Gute, Edle und Schöne widerspiegeln. Die Hysterikerin trat demgegenüber als der teuflische Gegentypus auf. Sie zeigte sich unberechenbar, ekstatisch und der Realität entrückt.
Hundert Jahre später dominiert das erschöpfte Selbst. „Burn-out“ ist zur großen Diagnose geworden. Oft versteckt sich dahinter eine Depression. Da geht es um den schlechten Stress, der nagt und quält, der lange dauert und niederhält. Der psychische Apparat drückt die Stopp Taste: Verlangsamung, Müdigkeit, Zusammenbruch – nichts geht mehr. Tätigkeiten, die hohe Anforderungen stellen und gleichzeitig mit einem niedrigen Kontrollspielraum ausgestattet sind, erhöhen diesen schlechten Stress.
Die niedrige Kontrolle kann in zwei Formen auftreten: Zum einen als mangelnde Möglichkeit, über die Gestaltung der Arbeitsaufgaben zu entscheiden, zum anderen als eingeschränkte Möglichkeit, Fähigkeiten und Fertigkeiten zu nutzen. Und Jobs dieser Art gibt es ja seit einigen Jahren genügend. Dauern diese Ohnmachtserfahrungen an, lernen wir Hilflosigkeit: Lass mich erleben, dass ich nichts bewirken kann. Wer feststellt, dass er trotz aller Anstrengungen nichts erreichen kann, der wird früher oder später resignieren und aufgeben.
Der Giftcocktail besteht aus drei Zutaten: aus hoher Anforderung, niedriger Kontrolle und niedriger Anerkennung. Wenn ich mich anstrenge, viel in eine Sache hineinbuttere und dann nichts herausbekomme – keine Anerkennung, kein freundliches Wort, dafür miesen Lohn und keine Aufstiegschancen –, dann wird es massiv gesundheitsschädlich. Das ist wie Vollgas bei angezogener Handbremse fahren. Erwerbsarbeit hat für viele einen desintegrativen Charakter angenommen. Ausgrenzung durch Arbeit.
Der Giftcocktail aus Anstrengung, Ohnmacht und mangelnder Anerkennung hat sich in die Mitte der Gesellschaft gefressen. Besonders in den schlechten Jobs mit mieser Bezahlung und geringem Einfluss kommt er zur Wirkung. Und die werden mehr. Gerade auch jetzt nach der Finanzkrise sind eine große Zahl besserer Jobs in viele kleine schlechtere umgewandelt worden. Die Sparziergänge im Unbewussten treffen auf andere Landschaft en, die Wege aber bleiben die gleichen. Die soziale Schere geht unter die Haut und schneidet in die Körper.