Wie Reiche denken und lenken
Reich auf Kosten der Gesellschaft
Der Soziologieprofessor Ueli Mäder wollte wissen, wie sie so denken, die Reichen in der Schweiz. Dort verfügen die obersten 2 Prozent über so viel Vermögen wie 98 Prozent der restlichen Bevölkerung. Ein Gespräch über die Gefahren sozialer Ungleichheit.
Interview: Cathren Müller
Ihr Buch „Wie Reiche denken und lenken“ portraitiert Reiche, die sehr offen über sich und ihren Wohlstand sprechen. War es schwer, diese Leute zu überzeugen?
Nein. Bereits vor zehn Jahren, bei unserem ersten Buch ‚Reichtum in der Schweiz’ hat uns die Resonanz überw.ltigt. Jetzt wurde uns bei einhundert Interviewanfragen nur einmal die Antwort verweigert. Ich frage mich immer, warum die Resonanz so positiv ist. Bei den einen ist es wohl großes Interesse, andere hoffen eventuell, weniger kritisch beurteilt zu werden, wenn sie kooperieren.
Hat diese Resonanz damit zu tun, dass Reichtum in einer Welt immer ungleicherer Verteilung zunehmend weniger akzeptiert wird?
Möglicherweise. Mehr als die Hälfte war bereit, namentlich im Buch zu erscheinen, andere wollten nur anonymisiert zitiert werden und einige wollten zwar Auskunft geben, aber nur dann, wenn nichts davon veröffentlicht wird. Mit Einigen habe ich dann sehr lange Gespräche geführt. Das sind für mich Indizien, dass es ein echtes Interesse an einer Auseinandersetzung gibt.
Problematisieren Ihre Gesprächspartner ihren Reichtum?
Manche der Reichen finden, wenn nicht ihren eigenen Reichtum, so doch die Entwicklung insgesamt problematisch, je nachdem, woher der Reichtum stammt. Wir unterscheiden in dem Buch den Reichtum patrizisch-aristokratischer Herkunft, den industriellen Reichtum, den Reichtum der Nachkriegszeit und den ganz neuen finanzgetriebenen Reichtum. Das ist natürlich eine sehr vereinfachende Typologie. Die habituellen und weltanschaulichen Unterschiede sind aber eklatant: Beim alten Reichtum, der vor allem in Basel zuhause ist, ist die Haltung ‚Reichtum verpflichtet’ sehr ausgeprägt. Anders beim neuen Reichtum: Dort fließt das Geld schneller, es gilt die Maxime, dass sich das Geld optimal verwerten muss. Soziale Verpflichtung spielt dort keine Rolle. Entsprechend problematisch oder auch nicht sehen die Reichen ihre eigene Rolle.
Wer gilt als reich?
Reich ist dort, wer in der Lage ist, von den Zinsen seiner oder ihrer Vermögen zu leben. Dazu braucht man ein paar Millionen – abhängig vom Anspruch. Dem Wirtschaftsmagazin ‚Bilanz’ gelten Personen als reich, die mehr als 100 Millionen Franken besitzen. So entsteht die jährliche Liste der 300 reichsten Personen in der Schweiz. Ein Phänomen ist, dass Reiche sich nicht unbedingt selbst so einschätzen. Ab wann dürfen sie sich arm fühlen? Wenn man nachfragt, kommt man auf ein Minimum von 30 Millionen Franken. Das ist die unterste Grenze. In der Schweiz ist die Verteilung der Vermögen ungleicher als irgendwo sonst: Es gibt eine Anzahl von Personen, die extrem viel haben. Die Schweiz hat die dritthöchste Milliardärsdichte der Welt, nur in Hongkong und Singapur leben noch mehr. Sehr viele werden über Erbschaften reich. Im Allgemeinen nimmt man an, Reichtum sei ein Produkt des Fleißes oder der Leistung, aber das oligarchische, aristokratische Prinzip spielt eine weit größere Rolle: Reichtum wird innerhalb einer relativ kleinen Gruppe weitergegeben. Relativ neu sind als Quelle von Reichtum die hohen Gehälter von Verwaltungsräten, CEOs und Aufsichtsräten. Das oberste Prozent der Einkommen hat seit den 1970er Jahren weltweit um 70 Prozent zugelegt, was unter anderem auf den wachsenden Anteil von Aktien als Bestandteil des Gehalts zurückzuführen ist und auf die Ämterakkumulation in den Führungsetagen der Unternehmen. Hinzu kommen die Börsen- und – in geringerem Ausmaß – Unternehmensgewinne.
Sie erwähnen, Reiche leben entsolidarisiert mit der Gesellschaft. Welche Auswirkungen hat das?
Wenn die Konzentration von Vermögen so weitergeht, wird der vorhandene soziale Zusammenhalt auseinanderdriften. Der Arbeitsfriede, der einerseits hochgehalten wird, andererseits aber zur Generierung dieses Reichtums beigetragen hat, ist damit zunehmend gefährdet.
Wer wird am stärksten von einer auseinander brechenden Gesellschaft betroffen sein?
Ganz klar jene, die über wenige Ressourcen verfügen. Krise als Chance, das ist zwar ein schönes Wort, aber auf wen trifft das zu? Auf jene mit viel Kapital. Auch mit sozialem Kapital, mit Beziehungen, mit einer guten Ausbildung. Wohlhabende Leute haben das Gefühl, wenn es eng wird, geht irgendwo wieder ein Türchen auf. Die Working Poor aber, die viel arbeiten, aber wenig verdienen, verspüren diese Sicherheit nicht. Sie stehen schnell mit dem Rücken zur Wand. Spannend ist, dass es auch Einbrüche bei sog. Mittelschichtsangehörigen gibt. Sie folgten bisher der Maxime: „Sei mobil, sei flexibel“. Tatsächlich konnten sie damit am Arbeitsmarkt ihr Haushaltseinkommen vielfach erhöhen. Heute stellen wir fest, dass just sie am meisten von den geänderten Verhältnissen, Deregulierung, Flexibilisierung betroffen sind. Was geschieht mit diesen Leuten? Auch da habe ich den Eindruck, da gibt es ein großes Empörungspotenzial. In Frankreich sind nicht wenige zu Le Pen gewechselt. Der Gini-Koeffizient stellt das Maß an Ungleichheit einer Gesellschaft dar. In der Schweiz beträgt er 0,8, in Österreich 0,65.
Wie viel Ungleichheit bzw. wie viele Reiche kann sich eine Gesellschaft eigentlich leisten?
Man sagt in der Schweiz „Wohl dem Land, das viele Reiche hat.“ Ich würde eher sagen, Reiche tragen vergleichsweise wenig zum Sozialhaushalt bei, aber viele Menschen tun ganz viel dafür, dass Einzelne so reich sind. Der einseitige Reichtum strapaziert den Zusammenhalt und ist auch ökonomisch nicht sinnvoll. Würde Leistung sich wirklich lohnen, gäbe es auch mehr Kreativität.
Kann jeder reich werden?
Nein. Es ist dafür in der Regel eine bestimmte Menge Grundkapital notwendig. Es gibt eher selten Geschichten von Aufsteigern, das sind schöne Beispiele, die nicht Schule machen. Im Gegenteil: Es gibt immer mehr Menschen, die Full time erwerbstätig sind und sich gleichwohl unter dem Existenzminimum bewegen. Das ist auch für junge Menschen entmutigend. Sie sehen, wie die einen finanziell abheben, ohne etwas Entsprechendes dafür zu tun.
Führt die vorherrschende Steuerpolitik zu mehr Ungleichheit?
Ja, teilweise schon. Erst kürzlich traf ich auf einer Alumni-Veranstaltung der Uni Basel einen Unternehmensvertreter, der sich noch vor zehn Jahren vehement für die Abschaffung der Erbschaftssteuer eingesetzt hat. Er hat das jetzt als Fehler bezeichnet. Die Steuerpolitik in der Schweiz verschont die Vermögen und die Privatgewinne und so gehen auch der öffentlichen Hand enorm viele Mittel verloren. Allein in diesem Jahr werden in der Schweiz 40 Milliarden Franken vererbt. Mehr als die Hälfte davon geht an mehrfache Millionärinnen und Millionäre. Davon könnte die öffentliche Hand mehr generieren. Das wäre für die höheren Vermögen gar nicht so schmerzhaft. Es gibt auch Einzelne, die sagen, wir haben hier eine gute Infrastruktur, wir sollten mehr von unseren Gewinnen abgeben. Die Befürchtung, dass es dann zu Kapitalflucht kommt, teile ich nicht. Eine Umverteilung über eine progressive Steuerpolitik wäre sinnvoll.
Wo stehen denn die Reichen politisch? Gibt es einen gemeinsamen Nenner?
Was viele Reiche verbindet, ist eine kritische Distanz zum Staat. Der ältere Reichtum sieht den Staat als notwendiges Korrektiv. Der Staat soll ein Gegenüber sein, mit dem man etwas aushandeln kann. Aber sie bleiben auf Distanz. Das sieht man unter anderem an den 70 bis 80 Milliarden Franken, die in Stiftungen stecken. Der alte Reichtum macht gern etwas fürs Gemeinwohl, will aber selbst die Zwecke bestimmen. Diese Reichen sind tendenziell aufgeschlossen, sie haben auch einen etwas höheren Bildungsgrad. Eine andere Fraktion hat sich der Schweizerischen Volkspartei genähert, die eine andere Haltung zu Europa vertreten. Im Kontext der Krise habe ich den Eindruck, dass es eine Reihe von Reichen gibt, die realisieren, dass es auch für sie gefährlich wird, wenn es so weitergeht wie bisher. Sie wünschen sich, dass Arbeit und Kapital wieder gleichwertig behandelt werden. Die wirtschaftlichen Umbrüche, die wir erleben, werden vielfach als Bedrohung empfunden. Wie erlebt das die Oberschicht? Teile davon erleben das auf jeden Fall als bedrohlich. Ich habe mit Managern gesprochen, die Angst verspüren und mit einer Verschärfung der Konkurrenz reagieren. Andere wiederum beginnen, sich die Sinnfrage zu stellen. Eine sehr reiche Frau erzählte, wie sie am Totenbett ihres Vaters erkannte, dass man den Reichtum ja nicht mitnehmen kann. Die meiste Veränderung wird wohl durch die sinnliche Erfahrung ausgelöst. Ich denke an einen sehr bekannten Schweizer Unternehmer, der mir sagte, dass seine Fahrdienste für behinderte Menschen ihn dazu gebracht haben, anders über sich und die Welt zu denken. Er hatte durch diese Wahrnehmung einer anderen sozialen Realität ein Aha-Erlebnis. Ich habe nicht die Illusion, dass er jetzt ein völlig anderer Mensch ist, aber möglicherweise würde es helfen zu zeigen, wie lebt eine allein erziehende Mutter, wie lebt eine Familie, wenn so viel Erwerbsarbeit vorhanden ist und so wenig Einkommen. Das hilft möglicherweise mehr als der moralische Appell.
Wie lenken die Reichen die Schweiz oder die globalisierte Welt?
Die Welt ist komplex und kompliziert, daher wird sich nicht das eine Machtzentrum finden lassen. Aber die Strategien der Einflussnahme sind sehr ausgeklügelt. Die Netzwerke werden immer wichtiger. Wir beobachten auch da eine Konzentration von Wirtschaftsmacht, die sehr kohärent auftritt – ganz anders als die Politik. Neben den Netzwerken, den persönlichen Bekanntschaften und den Verwandtschaften spielen auch die think tanks eine nicht zu unterschätzende Rolle. In der Schweiz haben wir mit ‚Avenir Suisse’, dem think tank des Unternehmerverbandes ‚Economie Suisse’ eine ideologische Denkfabrik. Deren Studien finden weite Akzeptanz, auch bei den Medien.
Welche Rolle spielt die Politik noch für die Reichen? Gibt es enge Verbindungen von Wirtschaft und Politik?
Die Anzahl der Politikerinnen und Politiker aus der Upper Middleclass hat zugenommen. Vor 30 Jahren spielten die Parteien noch eine größere Rolle, heute ist das anders. In einem nicht veröffentlichten Protokoll eines Basler Pharmakonzerns heißt es sinngemäß: ‚Wir haben es nicht mehr nötig, Leute in die Politik zu entsenden.’ Und doch gibt es eine bemerkenswert hohe Zahl von PolitikerInnen, die aus diesen höheren Mittelschichtkreisen kommen. Aber Reichtum bedeutet zweifellos Macht. Es gibt nur wenige Reiche, die auf direkte Einflussnahme kaum Wert legen. Aber auch sie verstehen, Netzwerke und think tanks zu nutzen. Der vorhin erwähnte Unternehmerverband Economie Suisse steckt in eine Abstimmung über die Wirtschaft mehr Geld als alle Parteien zusammen. Es scheint, als würden sich gerade die Reichen als erste von den Auswirkungen der Krise erholt haben. Stimmt das? Die reichsten 300 Schweizer hatten 1989 ungefähr 86 Milliarden Franken, 2009 besaßen sie 447 Milliarden Franken. Ein Jahr zuvor hatten sie noch 457 Milliarden, tatsächlich haben sie also zehn Milliarden verloren. Schon 2010 belief sich ihr Vermögen aber schon wieder auf 470 Milliarden Franken. Im Rahmen der raschen Erholung war also sogar eine Vermögenssteigerung möglich. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, dass weniger als drei Prozent der Steuerpflichtigen über mehr Nettovermögen verfügen als der ganze Rest der Bevölkerung. Eine Gewerkschaftsstudie hat aufgezeigt, dass sogar nur zwei Prozent ebensoviel besitzt wie 98 Prozent. Und die Studie „Global Wealth“ der Credit Suisse zeigt auf, dass in der Schweiz ein Prozent 58 Prozent der Vermögen hat. Die Konzentration von Reichtum hat also zugenommen.