Eine Mafia, die bettelt?
Wer nach Österreich kommt, um zu betteln, hat zu Hause materiell kaum noch etwas zu verteidigen. Die Filmemacherin Ulli Gladik hat BettlerInnen nach Bulgarien und in die Slowakei begleitet. Ihre Schilderungen lassen den Begriff Prekariat neu definieren. Reportage & Fotos: Ulli Gladik
Es war im Winter 2001. Ich war damals Austauschstudentin an der Kunstakademie in Sofia. Bei einem Spaziergang entdeckte ich hinter den Plattenbauten von Druzhba kleine, zeltähnliche Behausungen. Kinder mit verfilzten Haaren zogen einen Wagen voll Wasserflaschen. „Ja, wir wohnen hier.“, bestätigten sie mir und forderten mich auf, mitzukommen. Eine Frau zeigte mir ihre Hütte aus Alublech und Karton. Statt einer Tür hingen alte Decken vor dem Eingang. In einer kleinen Blechtonne brannte ein Feuer, darauf stand ein Kochtopf: „Das sind Linsen, Linsen vom Müll“, erklärte mir Slavka, so hieß die Frau. Sieben Kinder hat sie, und wenn sie nichts mehr zum Essen haben, geht sie raus auf die Landstraße um mit Männern zu schlafen, für 5 Lewa. Ein kleiner Junge trug eine Katze mit sich rum, am Bein, dann am Schwanz, dann am Nacken. Ein Mann kam und füllte Klebstoff in Plastiksäckchen, zum Schnüffeln. „Das macht warm“, erklärte er mir. Ständig zerrte jemand an meinem Arm, an meiner Jacke, an meiner Hand. Die Kinder schmiegten sich an mich und lachten. Dann reichte mir jemand einen Plastikbecher Schnaps. Ich nahm ihn dankbar entgegen. Ganz schön komisch kam ich mir vor mit meiner Daunenjacke, meinen gefütterten Stiefeln, meiner bürgerlichen Existenz zwischen den kaum bekleideten Leuten, den vor Kälte und Hunger zitternden Kindern.
Weiter drüben im Schnee: schwarze Plastikpfützen und Drähte. Auf dem Feuer ein Blechkanister mit Wasser. „Wir wärmen Wasser für die Kinder zum Baden.“, erzählte mir eine Frau. Wir standen ums Feuer. Alle atmeten den Gestank der Autoreifen, die langsam verbrannten. Ob sie nicht wissen, dass das giftig ist, fragte ich. Alle lachten. Natürlich wissen sie das, aber ohne Holz, wer will schon erfrieren? Früher hatten sie in einem Wohnhaus gewohnt, man hat ihnen die Heizung und den Strom abgedreht und sie raus geworfen, weil sie die Miete nicht mehr zahlen konnten. Seitdem leben sie mal hier mal dort, sagten sie. Keine Arbeit, kein Geld, kein Haus, und die Kinder, die werden in keiner Schule mehr aufgenommen, mit dieser Adresse.
Mariahilferstraße
In Wien traf ich Kirtsho Enev. Er stammte aus einem der Viertel, die ich in Sofia nach diesem ersten Erlebnis besucht hatte. Er bettelte. Damals – 2003 – gab es auch schon diese Berichte in den Zeitungen von den „Hintermännern“, die Menschen verstümmelten und zum Betteln zwingen. Von den Zigeunerbossen, die mit dem Mercedes ihre BettlerInnen einsammeln und sich Villen in Bulgarien und Rumänien bauen.
Ich war ganz aufgeregt, als ich Kirtsho in seinem Rollstuhl zum nächsten Kaffeehaus schob, dachte seine „Hintermänner“ würden uns folgen. Ich war mir sicher, dass er meine Hilfe brauchen würde, und deswegen mit mir reden wollte. Doch es folgte uns niemand. Zufrieden saß Kirtsho beim Kaffee, rauchte und lobte die schöne Wienerstadt. Sie seien zu dritt, versicherte er mir. Teilen lediglich das Quartier und waren gemeinsam im Linienbus angereist. Ein Mann hatte ihnen das Quartier organisiert und verlangte dafür naturgemäß Miete.
Und seine Körperbehinderung hatte er von einer Kinderlähmung.
Kirtsho brauchte meine Hilfe erst später. Stefan, sein Kollege, rief mich an und teilte mir mit, dass Kirtsho verschwunden war. Nach stundenlangen Telefonaten stellte sich heraus, dass er im Schubhaftgefängnis am Hernalser Gürtel festgehalten wurde. Als ich ihn besuchte, war er in erbärmlichem Zustand. Er zitterte und heulte. Zehn Tage später wurde er abgeschoben und erreichte Bulgarien mit einer Lungenentzündung, von der er sich lange nicht erholte.
Eine Mafia, die bettelt?
Bewegt von der Begegnung mit Kirtsho und interessiert, was es mit der Bettelmafia auf sich hat, organisierte ich Geld für ein Filmprojekt übers Betteln. Mit ÜbersetzerInnen machte ich mich schließlich auf, um Interviews zu führen. Es waren immer ähnliche Geschichten, die uns erzählt wurden: Arbeitsplatzverlust, (drohende) Obdachlosigkeit, Vertreibung, Sozialhilfe, die nicht zum Überleben reicht, kein Geld für medizinische Versorgung, etc. etc. Die Bettelmafia fand ich nicht. Trotz oftmaligem Nachfragen und Nachspionieren. Die Bulgaren sagten, die gäbe es bei den Rumänen, die Rumänen sagten, die gäbe es bei den Ungarn, die wiederum meinten, die Bulgaren wären als Mafia organisiert. Wir trafen Familien aus Rumänien, die ihre Heimat verlassen hatten, weil sie zu verhungern drohten und in Wien schließlich bettelten. Wir lernten eine Gruppe BettlerInnen aus der Slowakei kennen, die alle aus dem selben Dorf kamen. Jeden Monat investierten sie ihre Sozialhilfe in ein Zugticket nach Wien um nach zwei Wochen mit hundert oder bestenfalls 200 Euro in ihre Heimat zurück zu kehren.
„Eine Bettelmafia macht keinen Sinn“, sagten sie mir, „denn mit Betteln kannst du nicht viel verdienen, fünf oder zehn Euro, wenn du Glück hast vielleicht zwanzig am Tag. Falls dir die Polizei nicht das Geld abnimmt.“
„Die Mafia, die beschäftigt sich mit Prostitution, Waffen und Drogenhandel, oder Autodiebstahl, das ist lukrativer.“, erklärte mir Herr Olah.
Erniedrigende Leibesvisitation
Andrej Olah* kommt ebenfalls aus dem slowakischen Dorf. Mit ihm und seinem 18jährigen Sohn war ich eine ganze Woche lang unterwegs. Meist bettelten sie in Meidling, manchmal aber auch auf der Kärntnerstraße, wo dann einer der beiden Schmiere stand, denn wenn mensch im ersten Bezirk beim Betteln erwischt wird, heißt das nicht nur erniedrigende Polizeikontrollen inklusive Leibesvisitation, sondern auch Verlust des erbettelten Geldes. Denn das Geld, das ein/e BettlerIn bei sich hat, kann von der Polizei abgenommen und als „verfallen“ erklärt werden und muss nicht zum Strafausmaß für unerlaubte Bettelei angerechnet werden – belehrte mich die Pressestelle der Bundespolizeidirektion. Früher betrug das Strafausmaß 70 Euro, mittlerweile kann sich das schon auf bis zu 700 Euro erstrecken.
Abends gingen Herr Olah und sein Sohn dann zum Praterstern. Hier trafen sie Leute aus ihrem Dorf, erzählten sich die Erlebnisse des Tages, holten sich beim Canisibus der Caritas eine Suppe und gingen dann gemeinsam mit den anderen in ein Abbruchshaus zum Schlafen. Im Abbruchshaus verstand ich dann, was es heißt, seine Familie zu verlassen, um sich Tag für Tag auf Wiens Straßen für ein paar Euros zu erniedrigen, und dann die Nächte auf Kartons in der feuchten Kälte eines Wiener Abbruchshauses zu verbringen. Immer in Gefahr, von der Polizei mitgenommen zu werden, das gesamte Geld zu verlieren oder gar für ein paar Tage in der Rossauer Kaserne zu verschwinden.
Damals – 2006 – kannte ich fast alle BettlerInnen in Wien. Ich wusste, wer wo saß, wer von wo kam und unter welchen Bedingungen hier in Wien lebt. Es passierte nie, dass jemand nicht mit mir sprechen wollte. Im Gegenteil, ich hatte das Gefühl, dass die BettlerInnen froh waren, wenn mal jemand zuhörte.
Zum Betteln gezwungen
Als mein Film fertig war – ich hatte schließlich eine junge Frau aus Bulgarien, die in Graz bettelt, mit der Kamera begleitet – lernte ich die Leute der BettelLobbyWien kennen. Sie hatten ähnliche Erfahrungen wie ich gemacht. Ferdinand Koller hatte im Rahmen seiner Diplomarbeit sogar sämtliche österreichischen Polizeipressestellen angerufen und nachgefragt, ob es Beweise für die „Bettelmafia“ gibt. Die Antwort war negativ.
Wo sind also die Ursachen für die Gerüchte? Ist es der hohe Sensationswert, den das Thema liefert, weswegen viele Medien BettlerInnen aus Osteuropa wieder und wieder als „Mafia“ kriminalisieren?
In Graz erzählte einmal eine junge Bettlerin einer recherchierenden Falterredakteurin, dass sie nicht freiwillig bettelt und fand sich dann als „Bettelsklavin“ in der Titelstory wieder. Die Grazer Behörden waren alarmiert, doch die behinderte Rumänin wollte keine Anzeige erstatten. Ihre „Peinigerin“ war ihre eigene Mutter. Und es blieb ihr ohnehin nichts anderes als zu betteln, so sehr sie es auch hasste. Denn in Rumänien gibt es für Roma weder Behinderteneinrichtungen noch adäquate finanzielle und medizinische Versorgung. Es ist also nicht die Praxis der „Zwangsverstümmelung“ der Bettelmafia, die so viele Behinderte zum Betteln nach Mitteleuropa bringt, wie so gerne kolportiert wird, sondern lediglich die mangelhafte bzw. rassistische Sozialpolitik der EU-Länder Rumänien, Bulgarien und der Slowakei.
„Mit Bussen hergekarrt“
Zurück aber zur „Bettelmafia“. Meist sind die Zeitungsmeldungen über die „Mafia“ ja eher diffus gehalten. Eine Meldung im September 2009 im ORF Salzburg online schien mir aber doch – trotz Konjunktiv - etwas konkreter zu sein. BettlerInnen werden „gezielt mit Bussen nach Salzburg gebracht und würden oft auch von kriminellen Hintermännern zum Betteln gezwungen“ hieß es da. Der Bericht basierte auf einem Interview mit dem Salzburger Stadtpolizeikommandanten Lindenthaler, was auch ungewöhnlich war, denn wenn es um die „Bettelmafia“ geht, sind die zitierten Beamten meist namenlos. Ich rief den Oberst an um genaueres über die Salzburger „Bettelmafia“ zu erfahren. Auf meine Frage, ob es nicht Menschenhandel und Nötigung wäre, wenn jemand zum Betteln gezwungen werden würde, winkte er ab: „Nein, das ist es absolut nicht. Er (der Hintermann) zwingt ihn ja nicht, er geht nur her und nimmt ihm das Geld vorläufig ab. Ob das dann wieder ausgegeben wird oder aufgeteilt wird, das entzieht sich ja unserer Kenntnis.“
Also doch nicht von „Hintermännern zum Betteln gezwungen“! Deswegen also der Konjunktiv, es könnte lediglich sein!
Etwas später wurde mir klar, worin die Motivation für diese Onlinemeldung lag: „Wir in Salzburg wollen´s (Betteln) nicht tolerieren, speziell im Sommer während der Festspielzeit, weil viele Gäste da sind und das einfach kein gutes Bild macht, wenn in der Getreidegasse oder sonst in der Altstadt gebettelt wird.“ so der Oberst.
BettlerInnen werden also pauschal kriminalisiert, ihre moralische Integrität und die Legitimität ihres Handelns wird ihnen abgesprochen. Und ist das konstruierte Bild von den Hintermännern in der Bevölkerung erst mal präsent, ist sie auch bereit, härteren Strafen und Verboten zuzustimmen, denn genau das forderte Oberst Manfred Lindenthaler: „weil höhere Strafen abschreckend sind ...“
Polizei zeigt sich verwundert
Ein andermal war es eine ganze Serie von Meldungen, die mich neugierig machte. Diesmal in der Kärntner Krone: „Bettler werden immer aggressiver “ „Wer nichts gibt, bekommt Watsch'n“,. „Körperliche Attacken in Osttirol an der Tagesordnung“, „Bettelorganisationen tauschen ihre Leute immer wieder aus“.
„Es hatte auch Anzeigen gegeben“, bestätigten „Ermittler“ der Krone.
Als ich die Polizei anrief, war sie verwundert: „Das ist mir neu“, sagte der Lienzer Stadtpolizeikommandant Oskar Monitzer, „Ich weiß nicht, mit welchem Beamten da gesprochen worden ist.“ In Lienz jedenfalls konnte man keine kriminellen Bettelorganisationen nachweisen und es gab auch keine Anzeigen wegen aggressiver Bettelei. Und Polizeikommandant Eugen Schluga aus Klagenfurt sagte mir: „Wir haben in Klagenfurt zwischen 5 und 15 Bettler. Das sind immer dieselben, die kommen schon seit Jahren. Aggressiv sind die nicht, sonst würden wir ja einschreiten.“
Die Spur führte mich schließlich ins Klagenfurter Rathaus. Als ich dort anrief und mich auf die Meldungen über aggressive Bettler bezog, wurde ich sofort mit Stadtrat Wolfgang Germ verbunden. Auch er war in den Berichten mehrmals zitiert worden.
„Ich spreche mich gegen des organisierte Betteln aus, das gehört verboten“, erklärte mir der Stadtrat. Und was verstehen sie unter „organisiertem“ Betteln? „Erstens amol aggressives Betteln und daun holt, wo ma merkt, dass holt die Leute überhaupt nit amol von Österreich sein, keine österreichische Staatsbürgerschaft ham, dass irgendwas daherstammeln, sich nicht einmal ausweisen können, dann ist das für mich organisiert.“
„Absichtlich verstümmelt“
Nicht nur in Kärnten und Salzburg kriminalisieren PolitikerInnen mit Hilfe der Hintermännertheorie BettlerInnen, wenn es darum gehen soll, sie aus dem öffentlichen Raum zu vertreiben. Auch das sozialdemokratische Wien kreierte im März 2010 ein neues Bettelverbot. Der damalige Clubchef Siegi Lindenmayr belehrte die BettelLobbyWien, dass es die „herangekarrten moldawischen Bettler, die sich absichtlich verstümmeln und danach organisiert das erbettelte Geld abnehmen lassen...“ gegen die, beziehungsweise deren Hintermänner sich das neue Bettelverbot richten würde. Im Gesetzesantrag zum „gewerbsmäßigen“ Bettelverbot ging es dann nicht mehr um „ausgebeutete“ BettlerInnen.
Das Gesetz soll sich schlicht gegen Personen richten „die Wien offensichtlich organisiert und ausschließlich deshalb aufsuchen um zu betteln und sich auf diese Weise eine fortlaufende Einnahmequelle zu verschaffen.“ Nicht nur, dass das Gesetz zwischen WienerInnen und NichtwienerInnen unterscheidet und sich zudem niemand auskennt, was hier eigentlich verboten sein soll, es verstößt auch gegen eine Reihe von Grundrechten. Auch in den Sitzungsprotokolle des Wiener Gemeinderats findet man Aussagen von kriminellen Banden, von Bossen, Hintermännern und Bettlerkönigen, die, völlig unhinterfragt von verantwortlichen PolitikerInnen verwendet, Elemente alter antiziganistischer Vorurteile in sich tragen.
Bringschuld aus der NS-Zeit
In der Steiermark verlief die öffentliche Debatte ähnlich. Obwohl die Vinzenzgemeinschaft um Pfarrer Wolfgang Pucher und eine ForscherInnengruppe der Uni Graz fast alle BettlerInnen persönlich kennen, strapazierten PolitikerInnen und Medien auch hier das Mafiaargument. Als Sabine Jungwirth von den Grünen bei der Landtagsdebatte in Graz anmerkte, dass das steirische Bettelverbot ausgerechnet Angehörige der Romaminderheit treffen würde, die ohnehin seit Jahrhunderten verfolgt werden und denen gegenüber wir Österreicher aufgrund der Romaverfolgung in der NS-Zeit eine Bringschuld haben, erntete sie empörte Zwischenrufe. Walter Kröpfl von der SPÖ verlangte sogar einen Ordnungsruf.
Übrigens: Aufgrund einer parlamentarischen Anfrage der Grünen wurde heuer bekannt, dass seit 2008 lediglich in zwei Fällen wegen Verdacht auf Menschenhandel und Gewalt in Zusammenhang mit Betteln ermittelt wurde. Ob es Verurteilungen oder Freisprüche gab, wurde seitens der Justiz trotz Anfrage allerdings nicht mitgeteilt. Einer der beiden Fälle sind wohl die „17 Hintermänner und 80 Opfer“ die in vielen Varianten seit einem Jahr durch die Medien geistern. Es kam laut süddeutscher Zeitung nicht zur Anzeige, da die „Opfer sich nicht als Opfer gefühlt, sondern die Bettelsituation in Österreich als lebenswerter und würdiger empfanden, als ihre Lage in Rumänien.
* Name von der Redaktion geändert.
Ulli Gladik, Regisseurin und Mitstreiterin bei der BettelLobbyWien, hat die Bulgarin Natasha Kirilova zwei Jahre lang mit der Kamera begleitet. Der Film „Natasha“ war auf Festivals und im Kino zu sehen und ist jetzt auf DVD erhältlich.
www.natasha-der-film.at
http://bettellobbywien.wordpress.com