Nur „fast“ eine Österreicherin
Integration steht in der Politik hoch im Kurs: Deutschlernen, Leistung erbringen und im Herzen Österreicher sein. Wie aber stehen Jugendliche zum I-Wort? Ein Lokalaugenschein am Meiselmarkt und in einer Strandbar am Donaukanal. Reportage: Maria Sterkl, Fotos: Karin Wasner
Irgendwo, in einem Vortragssaal in Österreich spricht an diesem Donnerstag Nachmittag im August bestimmt wieder ein wortgewandter Integrationsexperte sehr gescheite Dinge, während der 17-jährige David, Sohn türkischer Immigranten, hier im kleinen Friseursalon nahe beim Wiener Meiselmarkt auf nichts anderes achtet als auf die schwarzen Haarbüschel am Fliesenboden, die er mit seinem roten Besen bedächtig zu einem Häufchen zusammenkehrt. David ist braungebrannt, hat dunkles Haar, schwarze Augen, ist adrett gekleidet und gut gelaunt. Er ist in Österreich geboren, doch ist er, wie er sagt, nur „fast ein Österreicher“. So beschreibt der Friseurlehrling alle Menschen, deren Eltern aus dem Ausland zugewandert sind: „fast Österreicher“. Begriffe wie „Migrationshintergrund“ oder „Bildungsferne“ sind ihm fremd. Er lese eben keine Zeitungen, Politik sei ihm egal. Integration? „Kenne ich nicht.“, sagt David, und zuckt mit den Schultern. „Was ist das?“ An Davids Gestik lässt sich ablesen, wer bei den rege geführten Integrationsdebatten mitredet, und wer nicht. David ist es nicht.
Ein Friseur verlinkt die Welt
Der 17-jährige angehende Friseur lebt in Wien-Meidling und arbeitet im 15. Wiener Gemeindebezirk Rudolfsheim, beides so genannte Ausländerbezirke. Für David ist es normal, im Friseursalon drei verschiedene Sprachen zu sprechen. Er parliert auf Deutsch, Türkisch oder Serbisch, je nachdem, was die Kundschaft verlangt, fehlerhaft bisweilen, aber bemüht. Einen Sprachkurs hat er nie besucht. Serbisch lernt er, während er Pflegespülungen in die Kopfhaut massiert oder Augenbrauen zupft. „Wenn ein Serbe kommt, dann frag’ ich: ‚Wie heißt das da, wie sagt man zu dem dort?‘ Inzwischen kann ich sogar Schimpfworte.“, erzählt David stolz, und schiebt die schwarzen Haarbüschel mit dem Besen auf eine kleine Schaufel.
Vor dem Salon bleiben eine Frau und ein Mann stehen, vorsichtig spähen sie durch die Glasfront ins Innere. Es ist ein Pärchen Ende Zwanzig, mit Umhängetaschen und Prada-Brille – Figuren des schleichenden Vordringens einer weißen AkademikerInnenschicht in den kulturell diversen Arbeiterbezirk. Sie tuscheln, zögern erst, schüchtern treten sie schließlich ein. Davids Lehrmeisterin begrüßt die beiden, die Frau nimmt an der Waschstation Platz und zwinkert ihrem Freund verstohlen zu. Es scheint ihr ein Abenteuer zu sein, sich in die Hände der türkischen Friseurin zu begeben.
Wer diese Szene betrachtet und Wien nicht kennt, würde ein pastellfarbenes Bild sehen. Das Bild einer Stadt, in der die Menschen zwar noch verkrampft, aber immerhin bemüht umeinander in Kontakt treten. Anders gesagt: Eine Stadt, die Ausländerwahlkämpfen nur wenig Stoff bieten würde.
Richtmaß Gackerlsackerl
Freilich ist dem nicht so. Das weiß auch David. „Es gibt Österreicher, die wollen die Türken. Und andere wollen sie nicht. Das kommt auf die Leute an.“, sagt David. Über die Frage, welche der beiden Gruppen die Mehrheit stelle, muss er kurz nachdenken. Dann beginnt er zu erzählen. Davon, dass er beim Gassi-Gehen mit seinem Hund immer beschimpft werde. Noch bevor sein bedürfnisgequältes Haustier das Hinterteil auf das Gras zu bewegt, höre er schon deren Gekeife. „Die Wiener schreien wieder.“, sagt er dann. Dass er gefälligst ein Sackerl verwenden solle, wo bitteschön der Beißkorb sei und überhaupt, und außerdem. „Ich habe das beobachtet“, erzählt David, „bei den anderen Österreichern schreien sie nicht. Nur bei mir.“ Und wie reagiert er darauf? David beginnt zu grinsen. „Die, die schimpfen, nehmen ja selber kein Gackerlsackerl.“, glaubt er zu wissen. „Also schrei ich jetzt auch immer, wenn ich das sehe.“ Ein paar Meter entfernt vom Friseursalon sitzt der 16-jährige Murat* auf einer Parkbank. Er wirkt unruhig, mit seinem Kumpel zählt er die Minuten. Eine halbe Stunde noch, dann gibt es frisches Gras. „Unsere Medizin“ nennt Murat die illegale Rauchware. Auf die Frage, für wie integriert er sich hält, reagiert er überraschend. Erst sagt er: „Ich bin nicht integriert.“, dann korrigiert er sich: „Besser gesagt weiß ich gar nicht, was das ist.“ Murat ruft seinen Kumpel, der ein paar Meter weiter gerade mit seinem Handy herumspielt. „He! Bin ich integriert?“ – Der Braungebrannte mit Kurzhaarfrisur und engen Jeans fragt zurück: „Was heißt das, Alter? Wenn ich den Sinn nicht verstehe, wie soll ich die Frage beantworten?“
Das I-Wort
Was bedeutet es nun wirklich – sich zu integrieren? Seit April hat Österreichs Regierung ein Mitglied, das sich genau um diese Frage kümmert: Sebastian Kurz. Wer die Aussagen des Staatssekretärs durchforstet, erhält darauf im Wesentlichen drei Antworten. Erstens: Deutschlernen. Zweitens: Leistung erbringen. Drittens: „Nicht nur im Reisepass, sondern im Herzen Österreicher sein.“
Wir fragen nach. Wie sieht es mit den drei Integrations-Anforderungen des Staatsekretärs bei Murat aus? Der Bursche, der immer noch am Meiselmarkt auf seinen Geschäftstermin mit dem Cannabis-Verkäufer wartet, spricht fließend Deutsch. Seine Installateurslehre wird er in Kürze abschließen. Sprache und Leistung, die ersten beiden Kriterien, kann Murat also bereits abhaken. Wie aber sieht es mit Reisepass und Herz aus? Im Licht des staatlichen Integrationsauftrags könnte man sagen: schlecht. Seit kurzem ist Murat nämlich gar kein Österreicher mehr.
Seinen österreichischen Reisepass hat er einfach ablaufen lassen, einen neuen erst gar nicht beantragt, dafür trägt er nun einen türkischen Pass bei sich. Warum? „Ich bin eher ein Türke“, erklärt der 17-Jährige. Aber was macht einen Türken zum Türken? Hm, überlegt Murat. „Mensch ist Mensch, egal woher.“, sagt er, zudem spreche er besser Deutsch als Türkisch, seit dem fünften Lebensjahr wohne er in Wien, aber „die Religion und so, das ist anders in der Türkei“. Darum die freiwillige Ausbürgerung. Ob er also einmal in der Türkei leben wolle? Murat schüttelt heftig den Kopf. „Nein. Ich will hier bleiben.“ Murat weiß selbst nicht, wo er hingehört, ob er überhaupt irgendwo hingehören will. Es wirkt so, als wäre sein Staatsbürgerschaftswechsel eher ein Ausdruck des Protests, als eine bewusste Entscheidung für eine nationale Identität.
Super integriert mit weißer Haut
Ein paar Meter weiter rastet auf einer Parkbank die 16-jährige Hawa. Die gebürtige Tschetschenin trägt langes, schwarzes Haar, enge Jeans und Stöckelschuhe. Mit ihrer Kumpelfreundin Kübra sitzt sie auf der Parkbank und plaudert, bis die Sonne untergeht. Dann gehen sie Fastenbrechen. Es ist Ramadan, Fastenmonat.
Hawas Geschichte klingt anders als jene von Murat. „Mir sagen sie oft, wie super integriert ich bin. Ja, da krieg ich viel Applaus.“, erzählt Hawa, sie wirkt belustigt. Das Kompliment freue sie, „ich nehme es als Zeichen, dass ich gemocht werde, dass man mich akzeptiert.“, sagt Hawa. Die Pegeltrinker im Beisl gegenüber könnten bei der quirligen 16-Jährigen Deutschunterricht nehmen, so akzent- und fehlerfrei beherrscht sie die Sprache. Erst seit sechs Jahren lebt sie hier, doch als Einzelkind mit Muttersprache Tschetschenisch und Spielplatzanbindung lernt man flugs. Ob die Leute ihre Sprachkenntnisse meinen, wenn sie Hawas Integrations-Fortschritt loben? „Mein Aussehen auch.“, glaubt Hawa: Kein Kopftuch, weiße Hautfarbe, keine auffällige Kleidung – das bringt Pluspunkte im unausgesprochenen Integrationsranking des Alltags.
Auch Hawas Freundin Kübra merkt man ihren türkischen Hintergrund nicht an. Während Kübras Mutter ein Kopftuch trägt, bleibt ihr Kopf unbedeckt, die 16-Jährige trägt modische Silberohrringe und ein türkisfarbenes Top, im selben Farbton hat sie Lidschatten aufgetragen. Für Kübra bedeutet integriert zu sein: „dass man sich von der Bekleidung her anpasst, dass man modebewusst ist, dass man freundlich ist, die Sprache spricht. Dass man nett, freundlich und hilfsbereit ist.“ Auf die Frage, wer denn diese modebewussten, hilfsbereiten ÖsterreicherInnen seien, an die es sich anzupassen gelte, müssen die beiden 16-Jährigen kurz nachdenken. Dann sagt Hawa: „Stimmt, das habe ich mir eigentlich noch nie überlegt. An wen sollen wir uns anpassen? An die da drüben in der Disco?“ Hawa verzieht den Mund. „Ich weiß auch nicht, an wen. Aber die Politiker wollen es immer von uns.“
Freundinnen: Hawa, Kübra, beide 16 Jahre alt. Wenn ihr Integrationsfortschritt gelobt wird, geht es nicht nur um ihre Sprachkenntnisse. Auch um das Aussehen. Kein Kopftuch, weiße Hautfarbe, keine auffällige Kleidung - das bringt Punkte im alltäglichen Integrationsranking.
Paradoxon Arbeit
Die Politik, das ist ein leises Pendel, das stets über Hawas und Kübras Scheiteln zu schwingen scheint. So hört es sich an, wenn man mit den beiden Schülerinnen spricht. Deutschlernen, nett sein, nicht auffallen, niemandem zur Last fallen, nicht aufmucken. Anfeindungen aushalten – auch das gehört dazu. Über dieses Thema scheint Kübra nicht gerne zu sprechen. Als Hawa ansetzt, über „Leute, die uns Ausländer nicht akzeptieren“ zu sprechen, beeilt sich Kübra, dieses Bild nicht so stehen zu lassen. „Wirklich, es gibt auch ganz liebe Österreicher. Ich habe einmal bei einer Familie auf die Kinder aufgepasst. Die waren wirklich total lieb.“, sagt Kübra. Prompt boxt ihr Hawa sachte von der Seite in die Rippen: „Jetzt sei doch mal ehrlich, klar gibt es solche und solche. Aber was ich zum Beispiel total oft höre, ist: Ihr nehmt's uns die Arbeitsplätze weg. Und am zweitmeisten: Die Ausländer arbeiten nichts und leben nur von Sozialhilfe. - „Ja, stimmt schon.“, sagt Kübra.
Die Vorgaben sind also widersprüchlich. Wer nicht arbeitet, gilt als Schmarotzer – und wer arbeitet, nimmt anderen den Job weg. Kann man es also nur falsch machen, wenn man alles richtig machen will? Und: Wenn es die Jungen aus zugewanderten Familien nicht wissen, was sie nun genau tun müssen, um als integriert zu gelten – wer weiß es dann?
Döbling ist anders
Die 20-Jährige Mona zum Beispiel. Die Döblingerin, die gerade mit ihrer Freundin Alina nach einer satten Portion Sonne, Sand und kühlen Getränken an der Strandbar Herrmann den Heimweg antritt, muss nicht lange nachdenken, was Integration bedeutet. „Die Kultur des neuen Heimatstaates anzunehmen“, erklärt sie, „den Lebensstil, die Sprache. Sich nicht in der eigenen Kultur verbunkern.“ Die 20-jährige aus dem bürgerlichen 19. Wiener Bezirk hatte in ihrer Schulklasse laut eigenen Angaben „überwiegend mit Österreichern“ zu tun. Dennoch weiß sie von „negativen Erfahrungen mit Integration“ zu berichten: „Wenn ich in der U-Bahn sitze und Leute reden die ganze Zeit nur Türkisch oder Serbisch.“, dann ist es nicht so, wie Mona sich das vorstellt. Auch Alina kennt Negativbeispiele. „Die reden in der Straßenbahn extra Türkisch, damit sie über uns schimpfen können und wir es nicht verstehen.“ Woher sie wisse, dass sie schimpfen? „Sie schauen dann so komisch her. Man merkt das ja.“
Alina, die ebenfalls großteils mit österreichischen Kids aufgewachsen ist und in Wien Alsergrund wohnt, erwartet von Zugewanderten, „dass sie sich für die österreichische Kultur interessieren, die Sprache lernen, und eine Arbeit annehmen.“ Die österreichische Kultur zu beschreiben, fällt auch der 18-Jährigen nicht ganz leicht: „Naja, sie sollten sich über Architektur und Musik informieren.“, meint Alina. „Und über die Bundesländer.“, ergänzt Mona. „Sie sollten wissen, dass es nicht nur Wien gibt.“ Und Alina fügt hinzu: „Bei Politik sollten sie sich auch ein bisschen auskennen.“
Apropos, eine kleine Zwischenfrage: Wer ist Sebastian Kurz? Der Name ist Alina nicht bekannt.
Keine Angst
Am Meiselmarkt raucht David gerade seine Pausen-Zigarette. Hawa und Kübra drehen, ineinander eingehakt, eine letzte Runde um die Wasserwelt, und Murat fährt mit der U-Bahn zu seinem Handelstermin. Das Pärchen beim Friseur begleicht die Rechnung und sagt „Bis zum nächsten Mal!“, die Stammgäste im Beisl schimpfen über Ausländer.
„Asoziale gibt es eigentlich überall.“, sagt Mona, „bei Österreichern und bei Ausländern.“ Warum aber wird bei MigrantInnen immer besonders laut geschrieen? „Das hängt vermutlich mit Vorurteilen zusammen.“, glaubt die 20-Jährige. „Ich glaube, viele Österreicher haben Angst, dass man ihnen die Kultur wegnimmt.“, meint hingegen Hawa. „Aber da brauchen sie keine Angst zu haben.“, beruhigt die 16-Jährige. „Sie haben Maria Theresia und so weiter – diese Geschichte nimmt ihnen keiner weg.“
* Name von der Redaktion geändert.