Dieses Theater funktioniert immer
Der Migrationsforscher Mark Terkessidis hält das Thema Einwanderung für eine grandiose Spielwiese für PopulistInnen. Brüssel werde das bald ändern. Interview: Niko Katsivelaris
Herr Terkessidis, Österreich hat vor wenigen Monaten einen Staatssekretär für Integration erhalten. Bekannt war Sebastian Kurz im Wiener Wahlkampf u.a. mit der Forderung nach „mehr Deutsch in den Moscheen“ geworden. Wie schätzen Sie diese Aussage ein?
Offenkundig hat er eine populistische Agenda, ganz so, als würde es keine anderen Themen geben. Der Islam wird im gängigen Integrationsdiskurs völlig überbewertet. Tatsächlich wird aber in vielen Moscheen – vor allem in den kleineren Gemeinden – längst auf Deutsch gepredigt, da die Moscheen oft überethnisch organisiert sind. Deutsch dient als gemeinsame Sprache zusätzlich zum Arabisch des Korans. Eigentlich könnte man diese Entwicklung ja auch positiv zur Kenntnis nehmen. Im Übrigen gibt es verfassungsmäßig garantierte Freiheitsrechte. Wenn die KatholikInnen in der Kirche wieder auf Latein predigen wollten, dann wäre das ihr gutes Recht.
Wie beurteilen Sie diese Fixierung auf die deutsche Sprache?
Aussagen wie die von Ihnen zitierte zeigt sehr klar, dass das Thema Integration hier in erster Linie durch die nationalistische Brille gesehen wird – und da ist Sprache natürlich das Top-Thema. Dabei ist diese Fixierung auf die deutsche Sprache ebenfalls ziemlich unverhältnismäßig. Ein nicht unbeträchtlicher Anteil der MigrantInnen hat ohnehin gute Deutschkenntnisse. Es macht aber wenig Sinn, jene verantwortlich zu machen, die schlecht Deutsch sprechen. Die Frage ist doch vielmehr: Ist unser Bildungssystem so beschaffen, dass Sprachkenntnisse gut vermittelt werden – unter Berücksichtigung und Wertschätzung der Herkunftssprachen? Und darüber hinaus sind Sprachdefizite ganz häufig ein Schichtproblem: In Deutschland hat die „Sprachstandsfeststellung“ im Kindergarten gezeigt, dass 25 Prozent der Kinder deutscher Herkunft im Alter von vier Jahren erhebliche Defizite aufweisen!
Laut jüngstem Integrationsbericht des Innenministeriums fühlen sich 45 Prozent der MigrantInnen „nicht dem österreichischen Staat zugehörig“. Jetzt soll eine „Rot-Weiß-Rot-Fibel“ die österreichische Werte- und Rechtskultur vermitteln. Ein tauglicher Versuch?
Ich kann die Zahlen nicht überprüfen. In Berichten dieser Art klingt es immer so, als würden die bösen Migranten sich einfach nicht mit Österreich identifizieren wollen. Die entscheidende Frage ist aber: welche Erfahrungen haben dazu geführt? Was ist mit Diskriminierung? Wie soll man sich einem Land zugehörig führen, das nicht einmal die offensichtliche Tatsache der Einwanderung akzeptiert hat? Insofern mutet die Fibel schon fast rührend an – wer liest denn so was? Grundsätzlich ist die Vermittlung von Rechten, des Rechtssystems und der Partizipationsmöglichkeiten natürlich eine ganz wichtige Sache. Nur klingt es fast zynisch, wenn man Leuten die „österreichischen Werte“ predigen möchte, während man ihnen gleichzeitig seit Jahrzehnten die Staatsbürgerschaft vorenthält.
Das Thema Fremdenrecht wird im Integrationsbericht vollkommen ausgespart – dabei ist es ein zentraler Punkt. Haben Sie für so etwas eine Erklärung?
Naja, dann würde es ans Eingemachte gehen. Solche Gesetze – das Ausländergesetz in Deutschland oder das Fremdenrecht in Österreich – sind ja nicht naturgegeben. Es handelt sich um Sonderkonstruktionen, ursprünglich für Personen geschaffen, die sich längere Zeit im Land aufhalten, aber keinen Zugang zur Staatsangehörigkeit haben. 56 Jahre nach dem ersten Anwerbevertrag leben in Deutschland immer noch 7.000.000 Ausländer mit einer durchschnittlichen Aufenthaltsdauer von 17,7 Jahren! Diese Menschen stehen einem kafkaesken Dschungel von Regelungen gegenüber, die noch dazu von Gemeinde zu Gemeinde unterschiedlich ausgelegt werden. Ein Kriterium zur Erlangung der Staatsbürgerschaft lautet, man müsse über die „notwendigen Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhaltes“ verfügen – aber was genau ist damit gemeint? Vage Regelungen sind typisch für diesen Bereich.
Sie haben in Bezug auf diese diffuse rechtliche Praxis den Begriff der „Politik des Provisoriums“ verwendet. Was meinen Sie damit genau?
Man will zwar ausländische Arbeitskräfte, aber diese nicht als Bestandteil des „Volkes“ anerkennen. Nun ändert sich aber vieles – der Bedarf auf dem Arbeitsmarkt, die internationale Situation, das Einwanderungsgeschehen, die Ansprüche der MigrantInnen, etc. Insofern muss die Gesetzeslage immer neu justiert werden. Während man sich unter dem Begriff der Integration derzeit mit den Problemen beschäftigt, die durch die Migration der 1960er Jahre entstanden sind, hat eine Mobilität eingesetzt, die sich in traditionellen Kategorien gar nicht mehr fassen lässt. In Berlin findet man derzeit zum Beispiel viele junge SpanierInnen und GriechInnen. Erster Eindruck war: TouristInnen. Tatsächlich wollen sie im coolen Berlin was erleben, sind aber dort auch auf Arbeitssuche. Wie also mit ihnen umgehen? Gewöhnlich sucht man wieder eine neue Sonderregelung. Wie im Fall der „Green Card“, die Kanzler Schröder 2000 vorgestellt hat. Damals dachten alle, ah, eine neue Einwanderungsdebatte. Dabei ging es nur um eine neue Sonderreglung, die es Mitarbeitern von globalen Konzernen ohne weitere Beschränkungen ermöglichen sollte, zwischen den einzelnen Standorten hin- und herzuwechseln.
Was bezweckt man mit solchen Sonderregelungen?
Man drückt sich um eine klare, transparente Einwanderungspolitik. Das betrifft sowohl die Regeln für legale Arbeitssuche als auch die Gestaltung einer vielfältigen Gesellschaft – etwa durch Umrüstung der Institutionen. Aber dafür muss erstmal klar sein: Wir sind ein Einwanderungsland. Derzeit ist die Politik schlicht widersprüchlich: Politiker sprechen über Fachkräftemangel, aber ein Ingenieur aus Algerien im Asylverfahren darf nicht arbeiten. Sie beschweren sich über illegale Einwanderung und verteilen in Kiew Touristenvisa an Leute, die ganz offensichtlich saisonal arbeiten werden, in der Gastronomie oder in der Landwirtschaft. Bis vor kurzem wurden arabische Potentaten regelrecht dafür bezahlt, die Einwanderung über das Mittelmeer zu stoppen, was dazu geführt hat, dass die Boote von weiter her kommen, und dann bedauert man die Toten im Mittelmeer und dämonisiert die „Schlepper“. Das ist doch verrückt.
Sie sprechen in Bezug auf nationale Einwanderungsdebatten auch von einem „Theater der Souveränität“. Nationalstaaten würde das Thema Migration gezielt benutzen, um sich selbst als souverän zu inszenieren – wie funktioniert das genau?
Das Ausländergesetz bzw. das Fremdenrecht ist weiterhin eine sehr nationale Angelegenheit. Vor allem, wenn man bedenkt, dass mittlerweile 80 Prozent der Gesetzgebung von EU-Regelungen betroffen sind. Daher ist das Thema Einwanderung eine grandiose Spielwiese für Populismus. Durch markige Worte und strenge Regelungen in Sachen Einwanderungspolitik erscheint der Nationalstaat dann in der öffentlichen Wahrnehmung als souverän – obwohl er es längst nicht mehr ist. Dieses Theater funktioniert aber immer weniger. Die EU redet auch bei diesem Thema zunehmend mit. Die EU-Kommission möchte das Einwanderungsrecht harmonisieren – mit der so genannten Blue Card. Die EU-Kommission traut sich da mehr, weil sie nicht vom Wahlkampf abhängig ist. Aber das heißt auch, dass der Populismus in Europa sich jetzt gegen Einwanderer und gegen die EU gleichermaßen richtet.
Beim Regierungspartner ÖVP vertritt man den Standpunkt, Asyl sei nicht Integration. Ist diese Trennung korrekt?
Ich habe erst kürzlich mit albanischen Jugendlichen gesprochen, die nach Belgrad abgeschoben wurden, obwohl sie zehn Jahre in Deutschland gelebt hatten. Die waren in Deutschland in der Schule, die sprachen Deutsch untereinander, die hatten sich also „integriert“. Und was passiert mit Asylbewerbern, deren Antrag positiv beschieden wird – werden die nicht „integriert“? Diese Ansicht ist doch Unsinn.
Während das Asylthema einer Spielwiese des Populismus gleicht, scheint man zum Beispiel Abschiebungen vor der Öffentlichkeit ganz gezielt zu verbergen. Wie passt dieser Gegensatz zusammen?
Es gibt hier eine bewusste Strategie, das Prozedere rund um das Thema Flucht unsichtbar zu machen. Von den Erstaufnahmestellen und Flüchtlingsunterbringungen bis zu den Abschiebegefängnissen. Da ist ja sehr viel Gewalt im Spiel. Am offensichtlichsten bei der Abschiebung. Aber das ist auch ein elementarer Vorgang, denn hier entscheidet der Staat am nacktesten darüber, wer Mitglied dieser Gesellschaft sein darf und wer nicht. Ein nicht unbeträchtlicher Anteil der Bevölkerung bekommt dabei ein mulmiges Gefühl. Deswegen wird dieser Komplex unsichtbar gemacht. Wir haben am Institute for Studies in Visual Culture zuletzt das Projekt „Black Box Abschiebung“ realisiert. Unser Ziel war es hier, diesen elementaren Prozess der Abschiebung sichtbar zu machen.
Sehen Sie eine Alternative?
Wir brauchen eine inklusive Idee von Staatsbürgerschaft und niederschwellige Partizipationsangebote. Das ist – wie eingangs erwähnt – die einzig glaubhafte Aufforderung an MigrantInnen, sich im Gemeinwesen zu engagieren. Es ist nämlich echte Beteiligung, die zum Gefühl der Zugehörigkeit führt.
In Ihrer letzten Publikation sprechen Sie in Bezug auf ein „Diversity Management“ vom „Programm Interkultur“. Wie soll der geforderte Umbau von Institutionen genau funktionieren?
Mit „Programm Interkultur“ knüpfe ich an den Begriff der interkulturellen Öffnung an. Die Gesellschaft ist vielfältig und maßgeblich durch Einwanderung strukturiert. Dem muss vor allem im institutionellen Bereich Rechnung getragen werden – vor allem, in dem Bereich, wo der Staat das Sagen hat oder Gelder zur Verfügung stellt. Es muss eine programmatische Verpflichtung geben, im Hinblick auf individuelle Hintergründe und Voraussetzungen eine gerechte Verteilung von Rechten, Pflichten, Ressourcen und Dienstleistungen zu erreichen. Dieses Programm soll Innovation für die ganze Institution erreichen, die dann wieder allen zugute kommt – Migrationshintergrund hin oder her. In Wirklichkeit erleben wir ja alle in unserem Alltag, dass die Institutionen, die für uns zuständig sind, aus einer anderen Epoche sind.
Können Sie ein Beispiel dafür geben?
Es gibt heute ganz selbstverständliche Formen von Mobilität, die von den Behörden nicht verstanden wird. Weil ich in Köln noch gearbeitet habe, muss ich dort eine Zweitwohnungssteuer bezahlen. Alle Regelungen diesbezüglich waren auf feste Arbeitsverhältnisse abgestellt – Freiberufler sind da gar nicht vorgesehen. Es ist paradox, wenn in Lifestyle-Magazinen die ganze Zeit die Patchwork-Identität abgefeiert wird, aber im Umgang mit Behörden klar wird, dass es besser ist, wenn man keine hat. Die Institutionen müssen sich auf die Vielheit der Individuen einstellen. Es macht keinen Sinn mehr, nach den Defiziten bestimmter Gruppen wie der „der Türken“ zu suchen, sondern man muss darauf schauen, was für strukturelle Barrieren es in den Institutionen gibt.
Sehen Sie positive Entwicklungen?
Auf kommunaler Ebene ja. Die Stadt Stuttgart etwa hat kürzlich beschlossen, dass diejenigen Träger, die von der Stadt finanzielle Zuwendungen erhalten, auch Diversity-Management etablieren müssen. Eine Einrichtung wie die katholische Caritas etwa, die ja zu 80 Prozent vom Staat finanziert wird, muss jetzt also in der Personalpolitik, in der Organisationsstruktur, in ihrem institutionellen Gepräge Vielfalt berücksichtigen. Das halte ich für eine sehr sinnvolle Maßnahme – vor zehn Jahren noch völlig undenkbar.
Können Gemeinden beim „Programm Interkultur“ eine Vorreiterrolle spielen?
Immer mehr Gemeinden in Deutschland erkennen diese Notwendigkeit, die Institutionen zu verändern. Das ist auch kein Wunder, bei den Untersechsjährigen sind in deutschen Städten Kinder mit Migrationshintergrund in der Mehrheit. Da ist auch das eindeutigste Steuerungspotential, wenn es den politischen Willen gibt. Aus den gleichen Gründen erleben wir auch eine Renaissance der Forderung nach dem kommunalen Wahlrecht für Nicht-EU-AusländerInnen. In einem Bezirk wie Berlin Moabit haben heute 30 Prozent der Bevölkerung kein Wahlrecht. Die Politik steht vor der Frage: Wie kann ich hier politische Entscheidung überhaupt noch legitimieren?