Expertise als Strategie
Nationalstaaten bröckeln, die Politik verwaltet und PR ist wichtiger denn je. An wen richtet die Zivilgesellschaft ihren Protest eigentlich noch? Willkommen in der Postdemokratie.
Text: Andreas Görg, Foto: Gregor van Boden
Demokratie und Nationalstaat sind in der Krise. Geschwächte Parlamente winken durch, was ihnen vergleichsweise mächtige Ministerien, die EU und transnationale Gremien vorlegen. Während PR-Agent_innen so laut wie nie zuvor die politische Beteiligung der Bürger_innen trommeln, verkommen die demokratischen Prozesse zu formal reglementierten Verwaltungsakten, deren Ergebnisse lange vor Abhaltung der öffentlichen Scheindiskussionen feststehen. Der deutsche Politologe Claus Leggewie kommentierte im vergangenen September in „Die Presse“ etwas mutlos, dass der nationale Staat als „Grundlage wohlfahrtsstaatlicher Solidarität wie demokratischer Mitwirkung“ in die „selbst gestellte Globalisierungsfalle“ getappt sei. Er könne gar nicht mehr „all jene öffentlichen Güter bereitstellen, an die sich die reichen Nationen in Jahrzehnten scheinbar unendlichen Wachstums gewöhnt haben.“ Ausgerechnet im Augenblick ihres weltumspannenden Erfolges hat die Demokratie mit ihrer eigenen Alternativlosigkeit zu kämpfen. Kein Wunder, dass Vordenker wie der britische Publizist Colin Crouch oder der streitbare französische Philosoph Jacques Rancière („Das Unvernehmen“) zu pessimistischen Befunden kommen. Sie gehen in ihren demokratiepolitischen Analysen vom Trend in Richtung einer „Postdemokratie“ aus und fordern, wenn auch ganz unterschiedlich, eine radikale politische Erneuerung.
Willkommen in der Postdemokratie
Da die reale Demokratie immer weniger ihren Idealen entspricht, ist der Zeitpunkt gekommen, über neue Perspektiven nachzudenken. Dass diese nicht von politischen Entscheidungsträger_innen zu erwarten sind, macht Claus Leggewie deutlich. Er hofft auf die NGOs, wenn er schreibt: „Der nationale Staat hat viele Kompetenzen an supra- und transnationale Agenturen abgegeben, die höchstens noch von Nicht-Regierungs-Organisationen kontrolliert werden.“ Tatsächlich aber war, so bitter es auch klingt, die Arbeit zivilgesellschaftlicher Organisationen in den vergangenen Jahren nicht von besonderem Erfolg gekrönt. Sicherlich, es gab immer wieder ermutigende Einzelerfolge zu verzeichnen. Aber wie sehr konnte der steigenden Armut, anhaltender Umweltzerstörung oder der Diskriminierung von Frauen, Migrant_innen und homosexuellen Menschen tatsächlich entgegengewirkt werden? Und wo konnten politische Repräsentationen “geöffnet”, partizipativer gestaltet werden?
Die institutionelle Gewaltenteilung zwischen Exekutive, Judikative und Legislative war in Österreich nie besonders gut ausbalanciert. Stark war immer nur die Exekutive, das Parlament ihr verlängerter Arm. Was dem Verfassungs- und dem Verwaltungsgerichtshof bleibt: Sie können rechtswidrige Akte aufheben, aber selbst reparieren dürfen sie diese Akte nicht. Im kärntner Ortstafelstreit und in vielen Asyl- und Fremdenrechtsfällen konnte daher die Exekutive dem einen wie dem anderen Gerichtshof durch faktische Verweigerung der Umsetzung ihrer Erkenntnisse auf der Nase herumtanzen. In den vergangenen Jahren macht sich ein Trend zur weiteren Schwächung der institutionellen Gewaltenteilung bemerkbar: So wurde eine Behörde des Innenministeriums (UBAS) einfach in einen Asylgerichtshof verwandelt und der Kontrolle durch den Verwaltungsgerichtshof entzogen. Und der Verfassungsgerichtshof will die Asylfälle auch loswerden. Hallo Rechtsstaat? Auch die neue Strafprozessordnung 2008 hat den unabhängigen Richter_innen zahlreiche Kompetenzen entzogen. Über diese verfügt nun die dem Justizministerium unterstehende Staatsanwaltschaft.
Und das Parlament? Seit dem EU-Beitritt 1995 ist es auch der verlängerte Arm der EU-Normsetzung, die großteils in den Händen der EU-Exekutive, also der EU-Kommission und des Rates, liegt. Hinzu kommt, dass die Welt ist in den vergangenen Jahren durch die Globalisierung und ihre Krisen immer mehr zusammen gewachsen ist. Dieser Prozess verlangt überregionale, kontinentale oder globale Regelung. Egal ob EU, Notenbanken, die WTO, die NATO, die G8 und zunehmend auch transnationale Konzerne: Sie alle erzeugen Vorentscheidungen, die für Österreich wirksam werden. Auch dort, wo diese Vorentscheidungen formell zunächst unverbindlich sind, haben die nationalen Parlamente praktisch kaum Chancen, sie abzuändern. Mittels Geschwindigkeit, Komplexität, Wissensvorsprung und Intransparenz werden die Parlamente überrollt.
Rund um die supra- und transnationalen Gremien formiert sich eine neue globale Elite aus den Spitzen der Exekutive und der Konzerne sowie Sach- und Rechtsexpert_innen. Diese elitären Zirkel sind weder demokratisch legitimiert noch formell verantwortlich. Sie arbeiten fleissig vor und die Parlamente segnen hechelnd ab. Nicht alles, was solchermaßen beschlossen wird, ist inhaltlich schlecht. Gerade in Österreich können wir oft froh sein über den Fortschritt von außen, der auf nationaler Ebene nie zustandegekommen wäre; Stichwort Antidiskriminierungsrecht. Aber die repräsentative Demokratie gerät damit zur Fassade. Wahlen degenerieren zu Instrumenten, mit denen Zustimmung zu den herrschenden Verhältnissen erzeugt werden soll. Sie verlieren an integrativer Kraft. Immer mehr Menschen sind von der Politik enttäuscht. Vielen geht der Überblick verloren. Colin Crouch konstatiert eine wachsende Unfähigkeit der modernen Bürger_innen, ihre Interessen herauszuarbeiten. Das Ideal der repräsentativen Demokratie "Alle Macht geht vom Volk aus!" gilt heute weniger denn je. In der Postdemokratie geht kaum noch Macht vom Volk aus. Die “Konsument_innen” haben, so Crouch, über die “Bürger_innen” triumphiert. Der Einfluss der Wirtschaftslobbies wächst, die Politik liegt ihnen zu Füßen; und die “Konsument_innen” genießen Brot und Spiele.
Politik wird ausgelöscht
Ob die Grünen in Deutschland oder in Oberösterreich mitregieren, macht kaum noch einen Unterschied. Symbolisch war die schwarzblaue Regierungsbildung vor 10 Jahren noch ein Tabubruch. Mittlerweile ist es europaweit üblich, dass auch rechtsextreme Parteien in die Regierung eingebunden werden. Denn es ändert nichts Wesentliches. Findige Werbestrateg_innen buhlen um eine zum Mainstream verschmolzene Mitte, alle Gegensätze sind verwischt. Politik als Widerstreit von Interessen, so Rancière, wurde damit ausgelöscht. Politiker_innen sind nur mehr lokale Manager_innen, von denen keine Gestaltung der Gesellschaft zu erwarten ist. Auch die demokratische Öffentlichkeit verändert sich in der Postdemokratie. Sie ist ein Ort von Scheingefechten, in denen Zahlen rhetorische Fronten festlegen: Einschaltquoten, User-Zugriffe und Umfragewerte messen die erregte Aufmerksamkeit eines faktisch passiven Publikums. Je weniger Unterschiede zwischen den Parteien, desto mehr Spektakel. Die neue Öffentlichkeit will Unterhaltung: noch mehr Populismus und scharfe Ressentiments. Viele Menschen wissen im Allgemeinen besser, was sie nicht wollen, als was sie wollen. Terrorismus, Schweinegrippe, Ausländer und Nazis sind die beliebtesten Schreckgespenster. Mit sozialen und wirtschaftlichen Sachfragen lässt sich hingegen nur wenig Aufmerksamkeit gewinnen. Armut, Umweltzerstörung und Diskriminierung werden von der Politik nur oberflächlich adressiert. Die Lösung dieser Probleme würde schließlich gesellschaftliche Umverteilung erfordern. Gegen die Allianz der Wohlhabenden mit allen, die ihren bescheidenen Wohlstand nicht verlieren wollen und leicht gegen jegliche Veränderung zu mobilisieren sind, ist keine wahlberechtigte Mehrheit zu gewinnen. Die großen sozialen Fragen sind für die Politik unbequem.
NGOs in der Postdemokratie
Daher werden diese großen sozialen Fragen gerne den NGOs überlassen. Leggewie’s Hoffnungsträger_innen dürfen gegen das kollektive schlechte Gewissen anrennen und werden mit einem guten Gewissen belohnt. Sie erhalten jene Glaubwürdigkeit, die Politiker_innen in der Postdemokratie verloren haben. Dieses symbolische Kapital versuchen die meisten NGOs irgendwie in Geld umzumünzen. Mit Spenden und Projektgeldern versuchen sie das Versagen des Staates in sozialen Fragen etwas zu kompensieren. Nur ein kleiner Teil der NGOs und anderer zivilgesellschaftlicher Organisationen in Österreich übt öffentlich wahrnehmbare Kritik an der Politik. Auch sie sind den “Gesetzen des Marktes” unterworfen: Subventionen werden heute stärker als früher nach politischer Willfährigkeit vergeben. So strampeln die Initiativen finanziell dahin, während die adressierten Spitzenpolitiker_innen für gewöhnlich Kritik und Proteste aussitzen. Sie meiden die Auseinandersetzung, nicht selten auch aus Mangel an fachlicher Kompetenz.
Colin Crouch fordert, die Entwicklung zur Postdemokratie nicht einfach zu akzeptieren. Allerdings bietet die traditionelle Kritik an Vertreter_innen der nationalen Politik keine Erfolgsperspektive mehr. Es besteht im Gegenteil die Gefahr, sich an Scheindiskussionen und am Bau der Fassadendemokratie zu beteiligen. Von der nationalstaatlichen Politik ist tendenziell nichts mehr zu holen. Eine neue Gewaltenteilung muss über den Nationalstaat hinaus gedacht werden. Die politisch aktiven NGOs und zivilgesellschaftlichen Organisationen müssten v. a. Selbständigkeit und Unabhängigkeit vom Staat entwickeln. Erst auf der Basis relativ stabiler und frei verfügbarer Einnahmen wird eine Organisation überhaupt strategiefähig. Staatliche Projektgelder führen demgegenüber zumeist in die politische Harmlosigkeit, weil sie an staatlich abgesegnete Projektinhalte gebunden sind.
Die transnationale Kampagne zum Stop des Ilisu-Staudammprojekts zeigt hingegen, wie es möglich ist, die neuen Eliten zu bewegen. Hier ist es gelungen, das postdemokratische Zusammenspiel der Kräfte und die Verflechtungen von Politik und Wirtschaft gegen eine lokale Bevölkerung transparent zu machen. Unternehmen, denen es nur insofern um Macht geht, als sich Profite maximieren lassen, erwiesen sich als angreifbarer als die Politik. Die Lektion daraus: Die strategische Ausrichtung von NGOs und zivilgesellschaftlichen Organisationen sollte auf transnational vernetzte Dominoeffekte abzielen. Expertise und Selbstinszenierung werden dabei auch für NGOs wichtiger. Moralische Argumente reichen nicht mehr aus. Transnationalen Expert_innen kann effektiver mittels Fach-Gutachten begegnet werden. Die Expertise wird damit zum strategischen Schlüsselmoment.
Allerdings kann die punktuelle Kontrolle durch NGOs nur den gröbsten Machtmissbrauch verhindern. Mehr Gerechtigkeit in der Gesellschaft kann nur durch soziale Bewegungen erwirkt werden. Diese brechen einstweilen vereinzelt an verschiedensten Punkten auf; hierzulande waren es zuletzt die Proteste der Studierenden. Das wichtigste strategische Ziel für alle, die große soziale Fragen angehen wollen, besteht in den nächsten Jahren darin, zur Entstehung von starken transnationalen Bewegungen beizutragen. Soviel ist sicher: Die Postdemokratie ist nicht das Ende der Geschichte.