Das Ministerium der Entrechteten
In Paris haben 3.000 MigrantInnen ohne gültige Ausweispapiere, ein großes Gewerkschaftshaus besetzt. Erstmals verquicken sich hier Arbeits- und Aufenthaltsfragen.
Text: Lisa Bolyos, Katharina Morawek
„Qu´est-ce qu´on veut? De Papiers!“ „Was wollen wir? Papiere!“ Parolen klingen durch die Straßen. Demonstrierende Menschen in einem Meer aus Transparenten. Die Forderungen sind eindeutig: „Regularisiert alle Sans Papiers!“ Doch mit Forderungen ist es bekanntlich nicht getan. Ein Transparent an der Hausfassade des großen Gebäudes macht deutlich, dass bereits weitere Schritte gesetzt wurden. Auf dem Transparent steht groß geschrieben: „Ministerium für die Regularisierung aller Sans Papiers“. – Ein Ministerium?
Bei dem großen Gebäude handelt es sich um das seit kurzem leer stehende, mehr als zehntausend Quadratmeter umfassende Bürohaus einer der größten Krankenversicherungen Frankreichs, der Caisse Primaire d’Assurance Maladie in der Rue Baudelique im 18. Pariser Bezirk. Mit dessen Verkauf um 36 Millionen Euro hätten die finanziellen Löcher der Krankenkasse gestopft werden sollen. Nun haben die „Sans Papiers“, MigrantInnen ohne gültige Ausweispapiere, kurzerhand das „Ministére“ ausgerufen.
Die Aktion ist zweifelsohne die bis heute bedeutendste und größte dieser Art in ganz Europa. Mehr als 3.000 Personen, manche Quellen sprechen sogar von bis zu 5.000 Leuten, halten die fünf Stockwerke des Gebäudes besetzt. Sie haben Versammlungs- und Fortbildungsräume eingerichtet, wo etwa Sprachkurse oder Rechtsberatungen stattfinden. Jeden Mittwoch demonstrieren die AktivistInnen auf den großen Boulevards von Paris. Sie stellen mit ihren Forderungen zugleich starke Bezüge zu anderen sozialen Bewegungen wie zu Anti-Privatisierungskampagnen her.
Neue Allianz
Die Besetzung in der Rue Baudelique hat eine Vorläuferin. Über ein Jahr lang, von Mai 2008 bis Juni 2009, hielten bis zu 3.000 BesetzerInnen die „Bourse du Travail“, das Gewerkschaftshaus nahe der Place de la République besetzt. (Diese Börsen sind eine Art Beratungsstellen der Gewerkschaften.) Einer der Gründe für die Besetzung war, dass die zweitgrößte Gewerkschaft Frankreichs, die der Kommunistischen Partei nahe stehende CGT sich nur in solchen Fällen als Interessensvertretung zuständig fühlt, wenn es sich um Unternehmen mit zumindest zehn Angestellten handelt. Oft sind, im besonderen illegalisierte Arbeitskräfte jedoch vereinzelt oder nur in sehr kleinen Arbeitszusammenhängen tätig, wie etwa in der Hausarbeit, der Pflege, dem Gastronomiegewerbe oder anderen Service-Bereichen. Viele jener, die die Bourse du Travail besetzt hatten, arbeiten ohne vertragliche Absicherung, da die Sektoren, in denen sie beschäftigt sind, eben gerade aufgrund entrechteter, billiger Arbeitskräfte rentabel sind. Viele dieser Leute gingen im Zuge der Besetzung in Streik oder gaben überhaupt ihre Jobs auf.
Die Entscheidung, ausgerechnet die Gewerkschaften zu bestreiken, anstatt die Betriebe der ArbeitgeberInnen oder die für die Legalisierung der Sans-Papiers zuständigen Behörden, ist nicht unumstritten. Die CGT, die in der Bourse du Travail Büros hat, empfand die Besetzung als Affront. Dementsprechend fuhr die Direktion einen harten Kurs: Sie drohte den Sans Papiers mit einer polizeilichen Räumung und machte klar, dass sie sich, solange die Besetzung andauern würde, nicht für eine gesetzliche Regularisierung, also eine Legalisierung der MigrantInnen unter bestimmten Kriterien, einsetzen würde. Auch bei einigen MitarbeiterInnen der Gewerkschaft brannten die Sicherungen durch: Sie zerstörten Infomaterial, einige wurden sogar handgreiflich. Nicht wenige sahen sich in ihrer Kritik an der klassischen Gewerkschaftshaltung bestätigt. Immer noch konzentrieren sich die Interessensvertretungen auf fordistisch-reguläre Arbeitsverhältnisse, während sie, so wie in Frankreich, prekär Beschäftigte ohne französischen Pass aus der gewerkschaftlichen Vertretung ausschließen. Am 24. Juni 2009 war es schließlich soweit, die Bourse du Travail wurde von der CGT geräumt – mit eigens engagierten, martialisch auftretenden Ordnern und später mit Unterstützung den zur Hilfe gerufenen Sicherheitskompanien der Republik (CRS), im Alltag auch riot cops genannt. Zu Personenkontrollen kam es nicht, allerdings wurden zahlreiche Menschen verletzt. Innerhalb der linken Gewerkschaft CGT kam es, angeheizt durch die medialen Bilder der Räumung, zu erheblichen Differenzen. In einem kosmetischen Akt wurde wenige Tage später einer der verantwortlichen Hilfssheriffs entlassen.
Leere Rentenkassen
Unter Mithilfe der CGT-Branchengewerkschaft im Reinigungsgewerbe wurde später das neue Gebäude gefunden und besetzt. Bemerkenswert ist diese große Aktion aus mehreren Gründen. Erstens aufgrund der sympathischen Dreistigkeit, mit der nun ebenfalls ein Ministerium „eröffnet“ wurde. Ein symbolischer Versuch im praktischen Kampf, auf institutioneller Ebene gleichzuziehen. Zum zweiten bildete sich durch die Besetzung ein interessantes Kollektiv von türkischen und kurdischen Sans Papiers. Orhan Dilber, ein Gewerkschaftsaktivist und Sprecher des Kollektivs, begründete diese ungewöhnliche Allianz in einem Interview mit Nicholas Bell mit den strukturellen Mechanismen der Illegalisierung. Während KurdInnen oft durch die Diskriminierung in der Türkei zu Asylsuchenden werden, beantragen TürkInnen vorwiegend als politische AktivistInnen Asyl. Seit die Türkei den sicheren Staaten zugerechnet wird, wird der Asylstatus nur noch selten verliehen. Bemerkenswert ist drittens, dass der Kampf, den das ausgerufene Ministerium sich auf die Fahnen geheftet hat, gleichermaßen gegen Illegalisierung und für Arbeitsrechte geführt wird. Diese beiden Säulen systematischer Entrechtung zusammenzudenken ist nicht gerade die Stärke von Frankreichs Gewerkschaften. Die CGT etwa unterstützt zwar die Legalisierung von 1.300 der rund 3.000 an der Besetzung beteiligten Sans Papiers, fordert aber keine generelle Legalisierung.
Die Geschichte der Sans Papiers in Frankreich unterscheidet sich von jener anderer europäischer Staaten deutlich. Sie haben in der Vergangenheit durch Demonstrationen eine relative Sichtbarkeit erlangt, machen immer wieder durch Besetzungen auf sich aufmerksam. Andererseits gibt es pro Jahr eine hohe Zahl von Abschiebungen. Die Zielvorgabe der französischen Regierung war für 2009, wie schon im Jahr zuvor erneut mindestens 25.000 Illegalisierte abzuschieben.
Arbeitskämpfe sind im heutigen Europa ohne (Arbeits-)migrantinnen nicht mehr denkbar. Orhan Dilber meint: „Wir sind nicht mehr diese isolierten Ausländer, die mit dem Klassenkampf in Frankreich nichts zu tun haben. Wir sind mitten drin. Mit der Bewegung der Sans Papiers bereiten wir uns auch auf die Zukunft vor. Ich denke, dass diese Zukunft eng verbunden ist mit der Zukunft der französischen Arbeiter. Das wird immer vergessen. Die Franzosen denken, dass sie uns aus Großzügigkeit und Solidarität unterstützen. Sie betrachten sich als Helfer. Aber warum unterstützt Ihr uns denn? Aus Nächstenliebe? Nein, ihr tut es für euch. Wenn es Sans Papiers gibt, die illegal arbeiten, werden auch die Kassen der Sozialversicherung immer leerer. Man wird sagen, dass Ihr bis zum Alter von 70 Jahren arbeiten müsst, weil die Renten unbezahlbar werden, denn von den Sans Papiers kommen keine Beiträge. Und zudem werden die Löhne nach unten hin angepasst. Es wird weiter privatisiert und ausgelagert werden, und dies alles ist nicht allein das Problem der Sans Papiers, sondern aller Arbeiter und auch der französischen Angestellten. Die müssen sich bewegen, nicht um uns zu unterstützen, sondern um für sich selbst zu kämpfen.“
Ende Februar streikten mehr als 5.000 Sans Papiers im Großraum Paris, 1.800 Unternehmen und Zeitarbeitsfirmen sind davon betroffen. Ausgang ungewiss. Mit der jüngsten Besetzung wurde jedenfalls wieder ein Stück Bewegungsgeschichte geschrieben. Von der Entstehung weiterer Ministerien zur Aneignung gesellschaftlicher Rechte ist auszugehen.
Lisa Bolyos ist Aktivistin des Europäischen BürgerInnenforums.
Katharina Morawek ist Redakteurin der Zeitschrift MALMOE.