Im Stich gelassen
Waris Dirie, von 1997 bis 2003 UN-Sonderbotschafterin gegen Genitalverstümmelung, fühlt sich in ihrem Kampf in Stich gelassen. Sie fordert Taten statt hohler Bekenntnisse. Kürzlich lief mit „Wüstenblume“ die Verfi lmung ihres Lebens in den Kinos an. Interview: Maria Sterkl
Das Interview findet im Hotel Sacher statt. Vor der Suite von Waris Dirie arbeitet zufällig gerade eine Putzfrau. Dirie spricht sie an, erkundigt sich nach ihrer Person und fordert sie dann auf, sich mit ihr beim Fotoshooting ablichten zu lassen. Nach der vierten Aufforderung willigt die etwas verunsicherte Frau aus Indien schließlich ein. Offenbar fühlte Dirie eine Seelenverwandtschaft, wie sie auf die erste Frage antwortete.
Frau Dirie, es war Ihnen wichtig, hier im Hotel Sacher mit einer der Putzfrauen abgelichtet zu werden. Während des Fotoshootings sagten Sie der Dame, sie solle nach Hause fahren. Warum das?
Diese Frau hat ihre Familie drei Jahre lang nicht gesehen, also soll sie heimfahren, nach Indien. Und dann wieder zurückkommen und hier arbeiten.
Sie vermisst ihre Familie, und ich kenne dieses Gefühl. Ich sehe ihre Augen und fühle ihr Elend. Also will ich dieses Foto mit ihr, es bedeutet mir viel.
Vor kurzem ist „Wüstenblume“ in den Kinos angelaufen, darin wurde Ihre Biographie verfilmt. Ging das Projekt auf Ihre Idee zurück?
Nein. Neun Jahre lang sind sie mir nachgerannt, die passende Person für dieses sensible Thema hatte ich aber nie gefunden. Mit der Filmemacherin Sherry Hormann hatte ich jedoch ein gutes Gefühl. Sie hat wirklich gute Arbeit geleistet.
Was hat Sie an den früheren Angeboten gestört?
Sie kamen von reichen und berühmten Männern. Und ich sagte: Hey, hier geht es nicht um Geld.
Welche Reaktion soll der Film bewirken?
Ich will keine Reaktion – sondern Aktion. Die Leute sollen sagen: „Oh Gott. Dass so etwas wirklich passiert, stimmt das?“ Jeder Mensch soll erkennen: Genitalverstümmelung ist ein Verbrechen.
Tun europäische Staaten genug gegen FGM?
Absolut nicht. Ich bin sehr enttäuscht von den PolitikerInnen. Von den europäischen, und von den afrikanischen erst recht. Alle PolitikerInnen sind gleich. Ich glaube ihnen nicht, ich vertraue ihnen nicht.
Auch nicht den Vereinten Nationen, deren Sonderbotschafterin Sie waren?
Denen schon gar nicht. Es gibt Statistiken darüber, wie viele Mädchen täglich verstümmelt werden. Seit ich diese Mission begonnen habe, sind es die gleichen Zahlen. Seit zehn Jahren! Es wird nicht recherchiert, es interessiert sie einfach nicht. Ich habe mit ihnen gearbeitet, aber sie haben mich zum Narren gehalten.
Welche Verantwortung hat die EU, was FGM in afrikanischen Staaten betrifft?
Wenn man afrikanischen Staaten helfen will, dann muss man in Bildung investieren. Es ist sinnlos, Reissäcke abzuwerfen. Europa muss etwas tun. Denn die Leute kommen alle zu euch! Was immer dort passiert: Es geht euch hier an. Wir sind alle Menschen, wir haben nur einen Planeten, also müssen wir einander helfen. Das ist nicht „euer“ oder „unser“ Problem. Sondern unser aller Problem.
Seit 12 Jahren kämpfen Sie gegen FGM. Sehen Sie Erfolge?
Wenn ich nicht gewesen wäre, würden Sie jetzt nicht hier sitzen und mich interviewen. Sie würden nämlich gar nichts über FGM wissen. Viele afrikanische Regierungen haben FGM verboten. Aber manche Staaten rudern jetzt auch zurück: Weil sie Frauen so besser kontrollieren und unterdrücken können. Und das ist ja der einzige Grund, warum FGM überhaupt existiert.
Bekommen Sie genug Unterstützung?
Nein. Ich kriege keinen Penny, ich mache das ganz allein. Aber aus jedem Land kriege ich Informationen und Hilferufe. Vor einem Monat rief mich dieses kleine Mädchen aus Deutschland an. Es sagte, sie habe eine Schwester, die schon verstümmelt wurde. Und sie selbst werde die nächste sein. Ich sprach drei Tage lang mit ihr. Dann wurde das Jugendamt beigezogen, die Eltern wurden überzeugt. Und jetzt geht es ihr gut. Sehen Sie? Ich kämpfe ganz allein. Und es ist nicht fair, dass ich das alleine schaffen soll. Ich habe auch ein Leben. Ich habe zwei Kinder.
Werden Sie dem Thema einmal den Rücken kehren?
Ich weiß es nicht. Solange das nicht besser wird, glaube ich nicht.
Sollte die Bedrohung durch FGM ein verpflichtender Asylgrund sein?
Ja, das sollte es schon längst. Wenn eine Frau hierher kommt, sollte sie nicht nur einen Asylbescheid bekommen, sondern auch einen Platz, wo man sich um sie kümmert. Wo sie genügend Bildung erhält, um auch die anderen Immigrantinnen aus Afrika zu unterrichten. Schließlich passiert FGM auch hier, in Europa.
Alle Frauen, die von FGM betroffen sind, aufzunehmen, hieße, dass fast alle somalischen Mädchen und deren Eltern Recht auf Asyl hätten.
Ja und? Und warum überhaupt Asyl? Warum können sie nicht einfach herkommen? Wenn Sie in mein Land kommen, werde ich Sie willkommen heißen! Ich würde nicht einsehen, warum Sie auf dem Boden kriechen sollten, damit irgendwer Sie aufnimmt. Wir leben alle auf demselben Planeten, wir sollten frei sein, hinzugehen, wohin wir wollen! Diese Diskriminierung bringt uns um. Sie zerstört unsere Welt.
Warum fürchtet sich die EU so vor afrikanischen Einwanderern?
Es ist keine Angst, sondern Rassismus. Sie wollen keine Menschen aus anderen Ländern haben und schon gar nicht Menschen aus Ländern, die schwere Probleme haben.
Sind bestimmte islamische Strömungen verantwortlich für FGM?
Fragen Sie mich nicht über Religion. Ich mag keine Religionen und ich glaube nicht daran. Nächste Frage.
Sind Sie Feministin?
Nein! Ich liebe alle Menschen. Ich liebe Männer. Darum kämpfe ich ständig gegen sie.
Feministin zu sein, heißt doch nicht, gegen Männer zu kämpfen.
Sondern?
Für die Rechte der Frauen.
Alle haben Rechte. Männer, Frauen, Bäume, Blumen. Alles, was Leben hat, muss respektiert werden.
Wie lässt sich vermeiden, dass mit der Abschaffung von FGM andere Praktiken erfunden werden, um Frauen sexuell zu kontrollieren?
Wissen Sie, die Rechte von Frauen werden so oft verletzt. Nicht nur FGM, sondern auch Zwangsheirat, Männer, die ihre Frauen schlagen, Vergewaltigungen, Mord. Alles gegen Frauen. In wessen Namen, wozu?
Vor dem Interview meinten Sie, Sie hätten schlechte Erfahrungen mit NGOs gemacht. Welche waren das?
Über NGOs will ich gar nicht reden. Manche von ihnen sind gut. Aber die meisten wollten nur mein schwarzes Gesicht und haben zu wenig gegen FGM getan.
Auch Ihre Foundation ist eine NGO.
Meine Foundation tut etwas. Ich bilde und informiere Menschen. Wissen Sie, wie viele E-Mails ich aus der ganzen Welt bekomme? Und ich werde weitermachen. Wenn ich mit dieser Filmpromotion fertig bin, will ich an jede Universität dieser Welt gehen und junge Menschen informieren.
Sie leben jetzt in Polen. Fehlt Ihnen Wien?
Ich vermisse Wien sehr. Bis auf eine Sache.
Die wäre?
Diese verdammte Hundescheiße. Die ist überall! Ich glaube, die Wiener haben mehr Hunde als Kinder. Schafft euch doch endlich mehr Kinder an!
ZUR PERSON
Waris Dirie wurde 1965 in Somalia in eine Nomadenfamilie geboren. Im Alter von fünf Jahren wurde sie genital verstümmelt. Eine Tortur, an der eine ihrer Schwestern starb. Als sie mit 13 Jahren an einen alten Mann verheiratet werden sollte, wagte sie die Flucht. Ohne den Weg zu kennen, schlug sie sich nach Mogadischu durch. Eine Tante vermittelte sie als Hausgehilfin nach London. Dort begann ihre Karriere als Model. 1997 sprach Dirie erstmals öffentlich über ihre Verstümmelung, bis 2003 war sie als UN-Sonderbotschafterin gegen FGM (female genital mutilation) tätig. Heute lebt die Mutter zweier Kinder in Polen, von wo aus sie die Aktivitäten ihrer Anti-FGM-Initiative, der Waris Dirie Foundation, steuert.