Bierdel, ein Präzedenzfall
Mit dem Rettungsschiff Cap Anamur hat Elias Bierdel 37 afrikanischen Bootsflüchtlingen das Leben gerettet. Das war vor fünf Jahren. Seither sieht er sich mit einem zermürbenden Gerichtsprozess wegen Schlepperei konfrontiert. Der Witz daran: Selbst der sizilianische Staatsanwalt glaubt nicht an die Anklage. Elias Bierdel, ein Präzedenzfall. Interview: Maria Sterkl, Bilder: Philipp Sonderegger, Borderline-Europe.de
Herr Bierdel, Sie stehen unter Anklage und sollen für vier Jahre ins Gefängnis, weil Sie 37 Afrikaner aus der Seenot gerettet haben. Als Sie im Februar 2004 die Bootsflüchtlinge an Bord Ihres Schiffs nahmen: Waren Sie sich da des Risikos bewusst, wegen Schlepperei vor Gericht zu landen?
Nicht eine Sekunde lang haben wir daran gedacht. Aber ich glaube, das hat der Herrgott so eingerichtet. Bestimmte Sachen macht man nur, weil man nicht weiß, was dann kommt: Hausbauen, Kinderzeugen, Flüchtlinge retten, und so weiter.
Sie sind nach dieser Aktion als Geschäftsführer von Cap Anamur ausgeschieden. Warum arbeiten Sie nicht wieder als Redakteur beim Deutschlandfunk oder der ARD?
Bei der ARD meinten sie: Den kann man nicht mehr beschäftigen, der steht ja vor Gericht. Und was die anderen Jobs betrifft, scheitert es daran, dass die Verhandlungstermine in Italien spontan festgesetzt werden. Und wenn du hin musst, dann immer gleich für ein paar Tage. Ich hatte mal einen Producer-Job fürs Fernsehen, und sie wollten von mir eine Zusage, dass ich beim ganzen Dreh dabei bin. Erst wollte ich Ja sagen, musste dann aber prompt in der Woche, als in Kiew gedreht wurde, nach Sizilien. Ich habe in den fünf Jahren alle Jobs verloren, und als dann meine Ersparnisse weg waren, Sozialhilfe bezogen. Seit dem Jahreswechsel versuche ich mich da wieder rauszuarbeiten – mit Vorträgen, kleinen Auftragsarbeiten.
Wie oft mussten Sie bisher zu den Verhandlungen nach Sizilien?
Im Schnitt einmal pro Monat. Oft werden Prozesstermine kurzfristig abgesagt. Einmal waren wir alle im Gericht, auch die Richterin war da. Und plötzlich meinte sie, sie hätte jetzt doch keine Zeit. Warum? ‚Heute kommt der Minister zu Besuch, und wir haben draußen gerade das Buffet. Kommt ein andermal wieder.’ Die Leute müssen aber aus verschiedenen Ländern anreisen. Mir scheint schon, dass das nicht nur Schlamperei ist, sondern eine Strategie der gezielten Zermürbung. Absurd ist auch, dass von mir noch nie einer etwas wissen wollte. Ich bin seit zweieinhalb Jahren bei den Verhandlungen, und bis auf meinen Namen hat noch nie jemanden irgendetwas interessiert. Dabei bin ich ja als Schwerverbrecher angeklagt.
Wie werden Sie in dem Verfahren behandelt?
Nach der Eröffnung des Hauptverfahrens hatte ich ja den Staatsanwalt gefragt, ob er mich eigentlich wirklich für einen Kriminellen halte. Und er darauf: ‚Nein.’ Ich: ‚Was soll dann das Ganze?’ Und er: ‚Ich mach nur meinen Job.’ Das ganze ist ein Spiel, und im Gerichtssaal ist das allen klar. Niemand glaubt wirklich, dass wir Schlepper sind.
Um als Schlepper zu gelten, müssten Sie die Flüchtlinge eigentlich geheim und für Geld nach Italien gebracht haben.
Von Geheimnis kann bei uns ja keine Rede sein – unsere mediale Präsenz wurde uns ja sogar vorgehalten. Und zweitens haben wir null Geld daran verdient.
Wie versucht die Anklage zu belegen, dass Sie finanziell von der Aktion profitiert haben?
Die These des Staatsanwalts ist: Wir haben uns Leute geschnappt, haben versucht, die festzuhalten, bis die Sache eskaliert, um dann mit einem vermeintlichen Notfall Reklame zu machen und so Spendengelder zu generieren. Okay, irgendwas muss er behaupten, um die Anklage zu halten, also verdreht er das.
Inwiefern spielte die Tatsache, dass Sie Menschenleben gerettet haben, im Prozess eine Rolle?
Das Seltsame ist, dass das von Anfang an unbestritten war. Wir saßen da, und der Staatsanwalt hielt dreieinhalb Stunden lang sein Plädoyer. Zu unserer großen Überraschung eröffnete er mit den Werten Europas: Humanität, Gastfreundschaft, und so weiter. Wir dachten: Na Donnerwetter, jetzt wird’s aber interessant. Der steigert sich da hinein, sagt ‚Ich ziehe meinen Hut vor Männern wie diesen’ oder ‚Wären diese Flüchtlinge nicht zufällig auf die Cap Anamur gestoßen, dann wären sie jetzt tot’ und so fort. Wir dachten, der kriegt jetzt im letzten Takt die Kurve, und sagt: Es ist keine Schlepperei. Aber von wegen: Derselbe Staatsanwalt verlangte dann, das müsse dennoch bestraft werden. Aber ihm würde das so zu Herzen gehen, dass er es nicht über die Lippen bringt, das Strafmaß zu verkünden. Also bittet er eine Kollegin, das zu tun und verlässt den Raum. Die Kollegin steht auf und verkündet: Vier Jahre unbedingt und 400.000 Euro Geldstrafe.
Warum die Wendung?
Wir spürten darin die unveränderte Entschlossenheit, uns fertig zu machen. Es ist ein politisches Verfahren. Da steht einer und sagt: Ich will, dass die da jetzt verschwinden, und zwar für immer. Der Stefan (der mitangeklagte Kapitän des Schiffes, Anm.) ist 67 Jahre alt und meinte unlängst: Ich weiß nicht, ob ich das Ende dieser Geschichte noch erlebe. Wenn wir in Revision gehen, dauert es wieder ein paar Jahre bis zum nächsten Urteil... und dann noch vier Jahre Haft.
Wie geht es Ihnen mit dem langen Warten und der Ungewissheit?
Das fordert Kraft. Ich bin ja nicht mehr der Jüngste. Aber das Leben ging weiter, und meine Freunde, die Familie haben mich immer unterstützt. Da ist viel intakt geblieben.
Werden Sie bis zur letzten Instanz gehen?
Eines wissen wir: Wenn ein humanitäres Rettungsschiff für seinen Einsatz bestraft wird, dann wird kein Handelsschiff jemals mehr helfen. Wir müssen ein Urteil erreichen, das klar stellt: Das, was wir gemacht haben, kann nicht verboten sein. Dann hätte unser Fall Signalwirkung. Ob wir das in dieser Instanz erreichen, in der nächsten oder gar nicht, ist unklar. Aber wir versuchen es.
Was, wenn ein Freispruch kommt? Werden Sie dann wieder mit einem Schiff unterwegs sein?
Meine Rolle ist hier ausgespielt, weil ich alles gesagt habe, was es zu sagen gibt. Ich würde mich geradezu freuen, mich auch mal wieder anderen Themen zuwenden zu können.
Wie sehen Sie die Arbeit der deutschen Medien in der Affäre?
Bei uns auf dem Schiff hat keine einzige deutsche Redaktion je angerufen. Ist das nicht interessant? Die Italiener kamen schon. Ich glaube, dass die Verdrängungsmechanismen bei diesem Thema so groß sind, dass es gar nicht im Bewusstsein war. Und natürlich schmiegen sich Mainstream-Medien auch an die Seite der Macht – das Thema ist politisch eben hart bekämpft.
Die deutschen Medien haben sich vor allem auf Cap Anamur-Gründer Rupert Neudeck gestürzt.
Neudeck war von Israel aus plötzlich ganz schlau und spielte den Kronzeugen. Diese Konfrontation war eine willkommene Möglichkeit für die Medien, dem großen Thema auszuweichen, indem man es skandalisierte. Oh, ein Krach im Verein – das ist toll, über Leute reden, statt über Probleme.
Neudeck meinte damals, es wäre besser gewesen, mit den Flüchtlingen nach Hamburg oder Lübeck zu fahren.
Einem Schiff darf nur ein einziger Hafen nicht verweigert werden, und zwar sein Heimathafen. Andererseits: Stellen Sie sich vor, Sie haben da Menschen an Bord, um deren Leben es geht, die weder vor noch zurück wissen. Und dann fahren Sie mit 37 Leuten quer um den halben Globus, fahren zwangsläufig durch die Hoheitsgewässer von Spanien, England, Frankreich, landen in Deutschland und verlangen Asyl.
Cap Anamur selbst hat Sie öffentlich nicht gerade unterstützt.
Sie hatten Angst. Der Druck ist ungeheuer hoch. Ich verstehe das, bin aber trotzdem der Meinung, dass man sich nicht von einem Thema abwenden darf, wenn es mal Ärger gibt. Es genügt ein Blick auf die Homepage von Cap Anamur, um festzustellen, dass sie mit dem Thema nichts mehr zu tun haben wollen. Das ist natürlich absurd, da der Fall ja den Namen des Vereins trägt. (lacht)
Cap Anamur bezahlt die Prozesskosten?
Ja. Ich war ja damals nicht auf einer privaten Kreuzfahrt, sondern habe das im Namen des Vereins gemacht. Und dass der Verein zahlt, ist auch nichts, worüber man froh sein kann: Hier werden Spendengelder, die unter anderem dafür gedacht sind, dass Menschen nicht mehr in so ein Boot steigen müssen, dafür verbraucht, um uns gegen eine absurde Anklage zu verteidigen.
Sie haben 2007 den Georg Elser-Preis für Zivilcourage verliehen bekommen. Was empfanden Sie da?
Mich hat das fast ähnlich beunruhigt wie die Anklage selbst. Das Verrückte war, dass der Schirmherr der Veranstaltung ein gewisser Herr Thierse war, der bekannte SPD-Politiker. Und ich hatte das Gefühl, ich kriege da von einem Kumpel vom ehemaligen Innenminister Otto Schilly, der uns damals nicht schlecht in die Wurst gemacht hatte, einen Lutscher überreicht: Da hast du, Bub, weil du so tapfer warst. Da kommt mir das Grausen. Ich war doch einfach nur jemand, der die Leute darauf hingewiesen hat, dass es ein Problem gibt. Was sagt das über unsere Gesellschaft aus, wenn darin schon eine herausragende Widerstandsleistung gesehen wird?
Hatten Sie mit der Cap Anamur bewusst nach Schiffbrüchigen gesucht?
Wir betonen immer, dass es keine Absicht war. Man wirft uns zwar vor, dass wir Schlangenlinien gefahren sind. Aber das ist ganz einfach zu erklären: Wir kriegten ja permanent Meldungen von sinkenden Booten. Der Perspektivenwechsel dieser Meldungen hat mich richtig beeindruckt. Da sinken ständig Boote, aber es gibt nur Warnmeldungen, damit man nicht kollidiert. Wenn Schiffe die Anweisung bekommen, das Gebiet weiträumig zu umfahren, muss der Kapitän ausweichen. Wer das nicht befolgt, riskiert eine zivilrechtliche Anklage.
Auch der Druck auf die Hilfsorganisation Cap Anamur wurde sehr groß, wie weit hat sie das selbst mitzuverantworten?
Diese Organisation ist sicherlich zu klein, um dem stand zu halten. Die juristische Verfolgung, der politische Druck, und der mediale Schlag gegen die Glaubwürdigkeit hat dem Verein stark zugesetzt. Was ist denn das Kapital einer humanitären Organisation? Dass die Leute ihr glauben. Etwas auch gegen den Willen der Regierung zu tun, muss in der humanitären Hilfe normal sein.
Gab es schon vor dem Start des Schiffs im Verein Unstimmigkeiten, wie Sie mit Bootsflüchtlingen umgehen sollen?
Das Schiff war angeschafft worden, um Landprojekte zu versorgen und um mit Greenpeace eine Aktion für den Klimawandel durchzuführen. Aber natürlich mussten uns von Anfang an mit der Frage auseinander setzen, wie wir mit Bootsflüchtlingen umgehen, die uns begegnen. Als das Schiff in Lübeck hergerichtet wurde, kam ein Reeder aus Hamburg, der acht, neun große Frachtschiffe auf den Weltmeeren fahren hat. Der meinte: Ist euch eigentlich klar, dass da überall Leute herumschwimmen? Der war seit zwanzig Jahren auf See. Der Mann hat uns eine Liste mitgegeben. Da standen die ganzen Seegebiete drauf, wo nach seiner Einschätzung mit besonders vielen Booten zu rechnen ist. Das war von A bis Z die Route, die wir sowieso entlang fahren wollten – nämlich die westafrikanische Küste, die Kanaren, der Ärmelkanal. Für uns war schließlich klar: Falls die Cap Anamur Flüchtlingen begegnet, dann nehmen wir sie an Bord.
Sie wussten also, dass Sie auf Flüchtlinge stoßen würden?
Ja, dass das Flüchtlingsaufkommen im Mittelmeer aber so massiv ist, war uns neu. Dass tatsächlich die Gefahr besteht, dass du nachts Leute überfährst. Das war auch dem Kapitän neu. Das hatte zur Folge, dass wir in bestimmten Zonen nachts gar nicht erst gefahren sind. Dort fahren aber, wenn ich das erwähnen darf, die großen Kreuzfahrtschiffe durch. Die brettern da durch, mit der dreifachen Geschwindigkeit von uns, das Schiff fünf Mal so groß, dabei kannst du die Boote nachts ja gar nicht sehen. Die sind viel zu klein für das Radar. Die Kreuzfahrtschiffe fahren Leute tot, weil sie gar nicht die Zeit haben, sich um diese Leute zu kümmern. Und darüber hinaus können sie ja nur nachts fahren, weil tagsüber Landprogramm ist.
Welche Wirkung, vielleicht sogar Vorbildwirkung hatte Ihre Rettungsaktion?
Am 7. Juni, als wir noch fest hingen, ließen die Innenminister Deutschlands und Italiens verkünden, es müsse ein gefährlicher Präzedenzfall verhindert werden. Erstmal fand ich das nur gruselig. Dann erkannte ich: Der gefährliche Präzedenzfall aus deren Sicht war offensichtlich, dass man Menschen an Land gebracht werden, die man nicht kriminalisieren kann. Denn was haben sie schon gemacht, außer, dass sie fast ertrunken wären, was ja nicht verboten ist? Dass ihre Rettung angesichts der Tausenden Toten als gefährlich bezeichnet wird, ist unfassbar.
Trotz der dramatischen Probleme, die Ihre Rettungsaktion nach sich gezogen hat – Sehen Sie NachfolgerInnen Ihrer Arbeit?
Ich möchte hier keinen Mythos verwalten. Aber die besondere Energie unserer Arbeit ist gleichzeitig eine besondere Verpflichtung. Weil das sonst tatsächlich keiner macht. Es sind keine Hilfsschiffe unterwegs. Auf der ganzen Welt gibt es niemanden, der da jetzt was tut.
Zur Person
Der Sozialwissenschafter und erfahrene Journalist Elias Bierdel, 1960 in Berlin geboren, war bis 2004 Geschäftsführer der Hilfsorganisation „Komitee Cap Anamur – Deutsche Notärzte e.V. Ende Februar 2004 retteten Bierdel und die Besatzung 37 in Seenot geratene afrikanische Bootsflüchtlinge, indem sie sie auf das gleichnamige Hilfsschiff Cap Anamur holten. Nachdem das Schiff in einem Hafen Siziliens in der Provinz Agrigent angelegt hatte, nahmen die Behörden die Flüchtlinge zur Abschiebung fest. Bierdel, Kapitän Stefan Schmidt und der erste Offizier wurden wegen Schlepperei angeklagt. Am 3. Juni soll das Gericht in Agrigent sein Urteil verkünden. Der Staatsanwalt fordert vier Haft und 400.000 Euro Geldstrafe für Bierdel und Schmidt. Elias Bierdel lebt heute im burgenländischen Pinkafeld. 2006 veröffentlichte er das Buch „Ende einer Rettungsfahrt“ im Verlag Ralf Liebe.