Geld fürs Daheimbleiben
Entwicklungshilfe wird zunehmend auch als Migrationsabwehr verstanden. Kann ein Global Marshall Plan Reisefreiheit für Alle bringen? Text: Beat Weber, Bild: Bernhard Kummer
Die „Festung Europa“ ist löchrig: Trotz massiver Abschottung kommen Jahr für Jahr viele Menschen, um in europäischen Staaten zu arbeiten und zu leben. Weil das Einigeln aber nicht so recht klappen will, versucht die Abschottungsgemeinschaft nun den Hebel bei den Ursachen der Migration – in den Herkunftsländern selbst – anzusetzen. Um den Zustrom zu stoppen. Als beste Maßnahme gegen Migration sehen viele die bislang von europäischen Nationalstaaten eher vernachlässigte Entwicklungshilfe an.
Das entsprechende Credo: Baut man in den ärmeren Ländern mit externen Geldern florierende Wirtschaften auf oder senkt man dort zumindest die Armut, dann würden die Anreize zur Auswanderung beseitigt und das „Problem“ Migration von selbst gelöst.
Global Marshall Plan
Schon im Jahr 2000 haben sich die UN-Mitgliedstaaten auf die „Milleniumsziele“ geeinigt. Sie vereinbarten konkrete Schritte zur Armutsbeseitigung, Bildung, Gesundheit, Nachhaltigkeit, Schuldenreduktion und Entwicklungshilfe. Bis 2015 wollen die Industriestaaten ihre – lange vernachlässigte – Entwicklungshilfe auf 0,7 Prozent des BNP erhöhen. Auch die in Österreich aktive zivilgesellschaftliche Initiative „Global Marshall Plan“ zielt in diese Richtung. Unter Berufung auf eine 1990 von Al Gore lancierte Forderung nach einem „Marshall Plan für die Erde“ hat sich die Idee im Lauf der Jahre zu einer globalen Initiative gemausert. Als Träger der Initiative tritt das ÖVP-nahe „Ökosoziale Forum“ auf. Dem Forum ist es etwa gelungen, sämtliche Bundesländer als Unterstützerinnen seiner Forderungen zu gewinnen. Der Grundgedanke: Reiche Staaten sollen Investitionen, abgestimmte Marktöffnungen und Co-Finanzierungen im Austausch für den Angleich sozialer und ökologischer Standards in armen Ländern leisten. Das soll verhindern, dass sich „nicht nachhaltige“ Produktions- und Konsummuster über den Planeten ausbreiten, zugleich sollen Bevölkerungswachstum und Migration gebremst werden.
Freizügigkeit: Nur für Waren
Der Plan sieht also eine Art Kompensationszahlung für den Verzicht auf eine Wiederholung jener Industrialisierungsformen vor, mit denen der Norden groß geworden ist – eine Politik, die man Anderen offenbar nicht zugestehen möchte. Was die ärmeren Staaten der Weltwirtschaft allerdings am meisten anzubieten haben, ist menschliche Arbeitskraft. Darauf wird in den Entwicklungshilfe-Programmen freilich erst gar nicht eingegangen. Von einem Zeithorizont für eine Öffnung der Grenzen – etwa einer Freizügigkeit nicht nur für Waren, sondern auch für Personen, wie sie die EU selbst als Ziel formuliert hatte – ist nicht die Rede. Auch nicht in den bekannten internationalen Plänen zum Ausgleich der weltwirtschaftlichen Ungleichheiten.
Immerhin diskutierte die UN-Generalversammlung im Herbst 2006 erstmals auf höchster Ebene über „Migration und Entwicklung“. Die Delegierten spürten den vielfältigen Junktimen von Entwicklungshilfe und Bekämpfung der Migrationsursache Armut nach: der Gefahr eines „brain drains“, also der massenhaften Abwanderung von Gebildeten aus armen Ländern zum Schaden der Herkunftsländer; dem positiven Beitrag von Migration zur Entwicklung der Herkunftsländer, wenn MigrantInnen Geld nach Hause schicken; oder wenn sie mit nützlichen Erfahrungen zurückkehren.
Sicherheitslösungen
In der politischen Praxis hat die Verknüpfung von Entwicklungshilfe und Migration aber ein weniger freundliches Gesicht. Die EU und andere Industriestaaten suchen vor allem „Sicherheitslösungen“: Es geht darum, die Ursprungsländer von Migration zu bewegen, gegen die Auswanderung vorzugehen bzw. abgeschobene MigrantInnen wieder aufzunehmen. Diese Zusammenarbeit wird dann mit Geld belohnt. In der EU bestehen starke Tendenzen, die Gewährung von finanzieller Unterstützung an Drittstaaten an deren „Kooperationsbereitschaft“ in Migrationsfragen zu knüpfen, sprich Maßnahmen gegen illegale Auswanderer zu fordern.
Selbst das Ziel, mehr öffentliche Gelder für die Beseitigung globaler Armut zu mobilisieren, das Initiativen wie der Global Marshall Plan propagieren, ist in Wirklichkeit ferner denn je.
Der globale Schuldenerlass gilt als de facto beendet. Schuldenerlässe gibt es nur noch vereinzelt im Anlassfall.
Tatsächlich stagniert die offizielle Entwicklungshilfe. Für viele Staaten sind Rücküberweisungen von MigrantInnen bereits eine bedeutendere Finanzierungsquelle. Das Ziel eines globalen Schuldenerlasses, vor wenigen Jahren noch auf der internationalen Agenda, gilt als de facto aufgegeben. Schuldenerlässe gibt es nur noch vereinzelt im Anlassfall. So zum Beispiel im Fall des Irak, als die USA nach der Invasion die wichtigsten Gläubigerstaaten an einen Tisch holten.
Afrika: Nur noch Zaungast
Dafür erreichten private Kapitalzuflüsse in die Länder des globalen Südens zuletzt einen historischen Höchststand. Allerdings konzentriert sich das Interesse nördlicher Banken und Unternehmen auf wenige stark wachsende Länder in Europa und Zentralasien, Ostasien und Lateinamerika. Die neuen Starken – Staaten wie Brasilien, China, Indien – verschaffen sich entsprechend auch politisch mehr Gehör in den Steuerungszentralen der Weltwirtschaft: sie konnten ihre Stimmrechtsanteile im Internationalen Währungsfonds erhöhen oder weisen wirtschaftliche Ratschläge aus den USA und der EU zurück. Der Großteil Afrikas und Asiens bleibt hingegen weiterhin Zaungast dieser Entwicklungen. Während die privaten Kredite in die neuen Wachstumsstandorte fließen, bilden öffentliche Kredite keinen Ausgleich für den Rest: Seit Jahren fließt mehr Geld für Rückzahlungen von ausständigen Krediten vom Süden in den Norden als neue Kredite in die umgekehrte Richtung.
Neuerdings klagt die Weltbank, dass China auf das Terrain der Entwicklungszusammenarbeit drängt und dort die Konkurrenz blass aussehen lässt. Peking knüpfe seine Geldvergabe nicht an die bei Weltbank und Co. üblichen Bedingungen. Vielmehr sei der „Schurkenhelfer“ an der Stärkung seines globalen politischen Einflusses interessiert. Freilich verfolgen auch die Industriestaaten ihre Interessen: sie suchen politische Partner, Rohstofflieferanten – oder eben Migrationsabwehr. Was aber, wenn der Norden in einem massiven Schub Entwicklungshilfe leisten würde, der – ganz ohne Einschränkungen – einfach der Armutsbeseitigung gewidmet wäre? Würde Migration dann versiegen?
Das ist zu bezweifeln. MigrantInnen kommen nicht vorwiegend aus den ärmsten Staaten. Migration kostet auch die Betroffenen Geld und ist Ergebnis einer voraussetzungsvollen Planung. Deshalb sind es in der Regel nicht die Ärmsten, sondern vielfach Menschen aus bessergestellten Schichten in ärmeren Ländern, die sich Abwanderung leisten können. Wenn Entwicklungshilfe erfolgreich arme Staaten zu einem höheren Wohlstandsniveau verhelfen würde, könnte das paradoxerweise dazu führen, dass zumindest für einige Zeit mehr Leute auswandern als früher.